EINE STIMME AUS MARAKESCH

■ Der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo plädiert für kulturelle Mischung und Austausch

Wer immer sich in Berlin mit dem Thema Orient-Okzident beschäftigt - Thema des diesjährigen Horizonte-Festivals dürfte nicht umhin können, auch dessen aktuell-lokaler Dimension Raum zu geben: dem Stand der Beziehungen zwischen orientalischen Bevölkerungsminderheiten und der Bevölkerungsmehrheit der Stadt. Hingegen scheinen dem Kulturmanagement solch kleinliche Erwägungen fernzuliegen und jene Bevölkerungsminderheiten als mitnichten kulturfähig und damit auch ansprechbar zu gelten. Während im abendlichen Tiergarten die Rauchschwaden der Holzkohlegrills um die frühere Kongreßhalle ziehen, macht sich der Kulturkonsument in derem Inneren auf die Suche nach dem Orient, den offenbar Lichtjahre vom orientalischen Treiben draußen auf der Wiese trennen. Im jetzt zum Haus der Kulturen der Welt geweihten, vor Zeiten eingestürzten Symbol deutsch-amerikanischer Freundschaft scheint auch die Begegnung zwischen Orient und Okzident wegzusacken - der Tempel wurde neben dem Fundament errichtet.

Da ist dann auch das Gezerre um den polnischen Krempelmarkt - nur ein paar Steinwürfe enfernt - der ja auch wegen seiner vermeintlichen Orientalisierung (polnische Händler und türkische Käufer) mitten im sogenannten Kulturforum vielen ein Dorn im Auge war, nur ein weiteres passendes Detail. Während im Gropiusbau eine millionenschwere Ausstellung den tausendjährigen Händel und Handel Europas mit dem Orient dokumentiert, wird der ärmliche Marktflecken vor der Philharmonie planiert, auf daß die edle Größe Berliner Nachkriegsmonumentalität vom bunten Treiben unbehelligt wieder recht zur Geltung komme. Während am Mittwoch abend Stadtreinigungsfahrzeuge unter Polizeischutz den Platz inmitten des Kulturforum desinfizierend ihre Runden drehen, ist der Literaturbeflissene bekannte spanische Schriftsteller Juan Goytisolo in die Kongreßhalle geladen als Mittler zwischen Orient und Okzident.

An diesem ersten Abend (dem noch zwei weitere folgen) präsentierte Goytisolo, der seit Jahren für die gegenseitige Durchdringung von verschiedenen Kulturen und Lebensformen eintritt, einige halbstündige Dokumentarfilme, die er in und über islamische Länder gedreht hat. Dem Projekt einer Begegnung zwischen Orient und Okzident passen sich die Filme gut ein, gehen sie doch auf einen konkreten Anstoß zurück. Bei einem seiner Aufenthalte in seinem Heimatland wurde der 1931 in Barcelona geborene Goytisolo, der seit Jahren wechselweise in Marakesch und Paris residiert, mit den araberfeindlichen Äußerungen eines Mitglieds der spanischen sozialistischen Regierung konfrontiert und im folgenden der katastrophalen Unkenntnis seiner Landsleute in Bezug auf die Vielschichtigkeit und den Facettenreichtum der muselmanisch/orientalen Kulturen gewahr. Er, der Jahre seines Lebens dafür gekämpft hatte, in seinem Land und außerhalb seines Landes grundlegende Wahrheiten über dessen Befindlichkeit zu Zeiten des Generals Franco sagen zu dürfen, und dafür mit langjährigem Publikationsverbot der frankistischen Zensurbehörden belegt worden war, beschloß diesmal, seinem Land die Realitäten einer Region nahezubringen, von der es im Laufe von 700 Jahren maurischer Herrschaft manche seiner Eigenarten und viele kulturelle Leistungen ererbt hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Goytisolos Filme gehen das spanische Orientkonzept, zusammengesetzt aus islamischem Fanatismus, blutrünstigem Terror und sozialer Rückständigkeit (und damit den hiesiegen Vorstellungen innigst verwandt) nicht frontal an, sondern versuchen es zu unterminieren - als Fernsehserie mit Unterstützung des spanischen Fernsehens gedreht, sind sie Meditationen über Erfahrungen des Autors mit dem Orient. Einfühlsam wird das Überleben jahrhundertealter religiöser Riten gezeigt, in denen die Zeit im zirkulären Kreisen still zu stehen scheint - auch wo die islamischen Bruderschaften Esel und Kamele mit knatternden Mopeds vertauscht haben. Höhepunkt des Abends ist die filmische Studie „Gaudi in Kappadokien“. Auf überzeugende Weise wird hier eine untergründige Affinität der organisch barock wuchernden Bauwerke des katalanischen Architekten Antonio Gaudi (der selbst nie in Kappadokien war) zur bizarren, im Wechsel von menschlicher Arbeit und natürlichen Erosionsvorgängen gewachsenen Topographie der türkischen Landschaft ins poetische Bild gesetzt und von Reflexionen über den potentiellen Reichtum der spanischen Mischkultur begleitet.

Für einen Moment wurde in diesem Film die Fremdheit, welche von der Serie insgesamt ausging, aufgehoben und die Fruchtbarkeit und verjüngende Kraft der kulturellen Mischung sichtbar. Freilich - die Vorführung der fünf Streifen (eines Zyklus von insgesamnt zwölf, Titel „Alquibla“) war schlecht konzipiert - das vom Autor gewünschte Gespräch konnte nicht mehr stattfinden, weil kaum jemand bis zum Schluß durchhielt. Der Hauptmangel der Veranstaltung jedoch war, daß die Art der Präsentation und der Ort der Durchführung die wünschenswerte Teilnahme von in Berlin ansässigen Türken ausschloß; die Mehrzahl der vom Drehbuchautor Goytisolo ausgewählten Filme war in der Türkei gedreht - sicher kein Zufall, das wurde am folgenden Abend deutlich.

Da warb der als „arabischer Spanier aus Paris“ vorgestellte Schriftsteller im Rahmen einer Lesung und anschließenden Diskussion für Respekt und Verständnis fremder Kulturen, vor allem aber, wo wie in Berlin die Bedingungen dafür gegeben sind, für einen produktiven Umgang mit dem Angebot leicht erreichbarer kultureller Vielfalt. Das fängt für ihn in der Nachbarschaft an - „ich wohne in Paris in einem Viertel arabischer Zuwanderer, und da bin ich eines Tages in einen arabischen Club eingetreten und habe arabisch gelernt“, erzählte er, der sich inzwischen in Marokko genauso heimisch fühlt wie in Frankreich oder Spanien. Sein Paris, gab er zu bedenken, ist nicht das Paris der Touristen - sein Paris sind die Stadtteile bunt zusammengewürfelter Menschen, Randexistenzen, anders, aber auch ähnlich wie er selbst. Eben die Randlage schätzte er auch an Berlin, wo er 1982 auf Einladung des DAAD zwei Monate verbrachte. Goytisolo sucht die beschädigte, aber pulsierende Stadt, und seine Bücher spiegeln unprätentiös diese Sichtweise - der Roman, aus dem er las, 1982 zum Teil auch in Berlin entstanden, „Landschaften nach der Schlacht“, ist ein Roman aus Bruchstücken, Bild eines städtischen Universums aller Metropolen.

Seinem Berliner Publikum hatte er einen bedenkenswerten Vorschlag mit auf den Weg zu geben, den sich allerdings zuvörderst die Festivalleitung zu Herzen nehmen sollte. Auf die alte Frage nach dem Unterschied zwischen Berlin und Paris wußte er mit einem Hinweis auf Kreuzberg zu kontern: Er habe sich, als er 1982 zwei Monate in dem Stadtteil verbrachte, spontan wohlgefühlt, und seine türkischen Sprachkenntnisse hätten ihm die Türen geöffnet. Das ist wohl nicht so zu verstehen, daß wir alle türkisch lernen sollten, es ist vielmehr ein Plädoyer für das Naheliegende, Einfache, daß dieser Weltbürger überzeugend repräsentiert. Kultur muß sich entwickeln von unten nach oben, und da bietet der fremde Blick, die Perspektive vom Rand der Gesellschaften ins Zentrum bißweilen erstaunlich günstige Voraussetzungen. Die kulturelle Produktivität der Araber in Frankreich ist ein Beleg für diese These und daß Goytisolo in Berlin ähnliches erwartet, daran ließ er keinen Zweifel - auch wenn seine Hoffnungsträger nicht im Saal präsent waren.

Der Funke sprang an diesem Abend nicht über - Goytisolos Anregungen zu einem produktiven Aufgreifen der Vorzüge kultureller Anregungen zu einem produktiven Aufgreifen der Vorzüge kultureller Vielfalt fanden weder Zuspruch noch Ablehnung. Sie prallten an der Selbstgerechtigkeit und Indifferenz eines intellektuellen Publikums ab, welches vor allem an dem bekannten spanischen Schriftsteller interessiert war. Letztlich derselben Indifferenz, die es ermöglicht, dem kulturellen Konsum einer Stadt unter dem Vorwand einer Begegnung zwischen Orient und Okzident einige Modeprodukte exotischerer Herkunft als gewohnt zuzuführen und die Diskussion darüber als Gespräch unter Spezialisten zu organisieren - eine Variante der altbewährten paternalistischen Strategie, über 100.000 Bürger orientalischer Herkunft in dieser Stadt zu reden, statt mit ihnen - wenn überhaupt. Den Veranstaltern der Horizonte mag dies alles wohl fernliegen - von der Idee, daß ausgerechnet in Berin zum Thema Orient noch anderen als handverlesenen Spezialisten etwas einfällt, blieben sie unberührt.

Thomas Luebke