Lebende Tote

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(Ich pflege tote Patienten, 22.35 Uhr, 25.6., ARD) Es sind die beiden lachenden jungen Männer - fröhlich rennen sie zur U-Bahn Station - die den Endpunkt eines Geschehens bilden, das unsere moderne Technologie scheinbar im Griff hat. Beide sind, und deshalb ist ihre Lebensfreude auch nur eine verhaltene, Transplantatsträger. Sie leben nur deshalb scheinbar unbeschwert weiter, weil man einem Gehirntoten ein gesundes Organ entnommen und verpflanzt hat. Das ist heute problemlos, selbstverständlich fast, doch zwischen dem Tod des Spenders und der Verpflanzung des Organs liegt ein Bereich, eine Leerstelle, mit der nur unmittelbar Beteiligte konfrontiert sind. Die Angehörigen beispielsweise, sie stehen am Krankenbett, der Sohn scheinbar schlafend ist noch warm, das Herz schlägt, doch der Arzt hat den Gehirntot bereits diagnostiert. Da er sich in einem Paß zur Organspende entschlossen hat, müssen sie Abschied nehmen von einem lebenden Leichnam. Geht das eigentlich? Oder das Pflegepersonal der Intensivstation: Sie können ihre pflegerischen Instinkte nicht einfach abstellen, sie waschen ihn, sie sprechen mit ihm, streicheln ihn, obwohl die Ratio ihnen sagt, dieser Mensch ist klinisch tot. „Wenn wir Kinder bekommen, die ausgenommen werden sollen“, sagt eine Krankenschwester, Tränen in den Augen, „das kann man kaum aushalten, das kann man kaum machen.“

Die Not des Pflegepersonals, sie bringt das Problem auf den Punkt. Auch wenn der Professor der Neurologie immer wieder betont, daß die Toten wirklich tot seien, und ein Arzt auf die genauen Richtlinien der Ärztekammer hinweist. Diese Form der Entlastung geht am Problem vorbei. Geht es hier doch um moralisch sittliche Fragen des menschlichen Lebens schlechthin, um unseren Sinnesapparat, der über Generationen hinweg sich ausgebildet hat und der mit klinischen Erklärungen nicht abgespeist werden kann. Die Angst und die Trauer, die Ehrfurcht vor dem Leben, die bleibt.

Doch auch Hans Jonas, der Philosoph, der nicht nur in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung sich mit diesem Grenzbereich, den man dem Tod abgerungen hat, auseinandersetzte, kann hier nicht weiterhelfen. Seine Position, vom Recht des Menschen auf Unversehrtheit des eigenen Körpers, kann nur ein Einspruch in eine bereits verlorene Sache sein.

Tatsächlich aber sind in der medizinischen Entwicklung nicht nur hier Grenzbereiche aufgeschlossen worden, die weiteres differenzierteres Denken nötig machen, eines das sich verabschiedet vom naturwissenschaftlichen Machbarkeitswahn, aber auch eines, das sich von fundamentalistischen Positionen der Philosophie und der Religion freimacht. Einen Beitrag geliefert zu haben, der zumindest implizit dieses Problemfeld aufzeigt, das hat die Qualität dieses Beitrages von Dieter Stengel ausgemacht.

ks