Mozart ist Denken an Mao“

■ „China, mein Schmerz“, 23 Uhr, ZDF

Die Hardliner um den greisen Deng Xiaoping regieren wieder mit eiserner Knute, und kein Mittel scheint zu schade, sogenannte Rebellen aufzuspüren und abzuurteilen. China, mein Schmerz, mögen da einige ausgerufen haben wie weiland Heinrich Heine, als ihm der Zustand des heimatlichen Deutschlands den Schlaf raubte. Doch Chine, ma doleur, so der Originaltitel der deutsch-französischen Ko -Produktion, hat auf den ersten Blick wenig zu tun mit der Lage im heutigen China. Der Film beginnt 1966. Mao Zedong, erzürnt über die satten Führungskader der KP, hat gerade zur Kulturrevolution ausgerufen. Dem heute 35jährigen chinesischen Regisseur Dai Sijie ist diese Zeit als Phase der blinden Agitation und der tagtäglichen Willkür in Erinnerung. Skandierte Sprechchöre, marodierende Rotgardisten und hämmernde, allgegenwärtige Rundfunktiraden

-das sind die Elemente, aus denen er die Ouvertüre seines Films komponiert hat. Doch plötzlich, inmitten dieser kraftvoll-rhythmischen Tonkulisse ertönt das sanfte Säuseln eines Schlagers: „Liebster, Liebster, wir gehören zusammen.“ Der 13jährige Held, wegen seiner Brille „Zwicker“ genannt, hat die Platte aufgelegt, um ein gleichaltriges Mädchen auf sich aufmerksam zu machen. Prompt stürmt ein „Säuberungstrupp“ herein und verhaftet Zwicker wegen Beleidigung der Partei. Es folgt die Verbannung in ein Umerziehungslager.

Konventionell und kurzatmig wird dieser erste Teil des Films erzählt. Armbinden, Soldaten, Führerporträts - hier werden nur Insignien abgerufen.

Auf diese Weise wurde bereits unzählige Male das präfaschistische Klima der Weimarer Zeit auf die Leinwand gebracht. Doch dies zu monieren, wäre dem Film Unrecht getan. Sein eigentliches Thema ist die Frage nach Anpassung oder Widerstand, projiziert auf den Mikrokosmos eines Umerziehungslagers. Dai Sijie, der in Paris die Filmhochschule absolvierte, wollte diesen seinen ersten Film in seiner Heimat drehen. Er scheiterte an den Hürden der chinesischen Administration. Deshalb war er gezwungen, sämtliche Schauplätze nur mit Hilfe seiner Erinnerung zu rekonstruieren. So entdeckte er in den Pyrenäen unweit von Perpignant eine verlassene Einsiedelei, die sich für den Film in das benötigte Umerziehungslager verwandelte. Hierher wird Zwicker verbannt. Morgens heißt es: Schandhut auf, stramm stehen und das „Leid der Vergebung“ singen. Der Lageralltag ist öde, und die Insassen fügen sich. Als ein Junge auf einer Tonpfeife Mozart spielt, eilt der Kapo herbei und fragt, was er da spiele? „Mozart“, die Antwort. „Was ist Mozart?“, fragt der Kapo weiter. „Mozart bedeutet: Denken an den Vorsitzenden Mao.“ Der Kapo ist zufrieden. Dai Sijie läßt keine Gelegenheit aus, die Repräsentanten der Macht der Lächerlichkeit preiszugeben. Die niederen Instinkte sind es, die die Kulturrevolutionäre handeln lassen. Von den hehren Zielen der Umerziehung keine Spur.

Ein alter taoistischer Mönch ist der einzige, der sich der Drangsal stumm widersetzt. Als er den traditionellen Tag der Ahnen zelebriert, wird zur Strafe einer seiner Schuhe verbrannt. Der Mönch nimmt es klaglos hin. Doch die Strafe verhängt, um die reaktionäre Religiösität zu brechen verkehrt sich in ihr Gegenteil. Der nackte Fuß wird zum Sinnbild der inneren Emigration. Der Film des Chinesen, der mit 13 Jahren den Höhepunkt der Kulturrevolution erlebte, präsentiert diese umstrittene Form der Flucht als einzig mögliche.

Am Ende des Films entledigt sich Zwicker, inzwischen gereift, seines Schuhes. In Frankreich erhielt Chine, ma doleur den Prix Jean Vigo für den besten Erstling des Jahres 1989.

Friedrich Frey