Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion

■ Gefährdet der Nationalimus in der Sowjetunioon den Reformprozeß?

Die entsetzlichen Morde an den Angehörigen der Volksgruppe der Meßcheten, die Pogrome an den Armeniern in Sumgait, die zunehmend mit Gewalt ausgetragenen nationalistischen Konflikte deuten auf eine Irrationalität innerhalb der sowjetischen Gesellschaft hin, die sich gerade zu reformieren beginnt und eigentlich Humanität und Demokratie anstreben müßte. Während in Westeuropa die Nationalstaaten Zug um Zug an Kompetenzen verlieren, scheinen die verschiedenen Nationalitäten im Osten nichts drängender zu finden, als eine eigene Nationalstaatlichkeit zu begründen und die auch noch nach einem ethnischen „Reinheitsgebot“.

Diese bedauerliche Entwicklung vor allem in den südlichen Sowjetrepubliken der beginnenden Demokratisierung anzulasten wäre allerdings falsch, gibt es doch genug Beispiele für ethnisch motivierte Auseinandersetzungen auch vor dieser Zeit. Nur wurden sie damals kaum bekannt. Und genauso falsch wäre es, den jetzt überall entstehenden „Volksfronten für die Perestroika“ das Erstarken dieser Art von Nationalismus in die Schuhe zu schieben. Sowohl innerhalb der bereits seit Jahresfrist bestehenden Volksfronten in den baltischen Ländern als auch in den jetzt gegründeten sind ganz unterschiedliche politische und gesellschaftliche Strömungen enthalten. Umweltschützer und Parteikommunisten, Honoratioren aus Universitäten und der Kulturszene, Frauenverbände und Denkmalschützer bilden die Basis für Forderungen, die der Umgestaltung und Demokratisierung auf die Sprünge helfen sollen. Ihre Klammer - die Dezentralisierung der Gesellschaft, die Entwicklung neuer Entscheidungsstrukturen für die Ökonomie und die Herstellung von Rechtssicherheit - macht sie fähig, den Kampf gegen die lokalen Parteiapparate und die Behörden aufzunehmen.

Weil sie aber offene Bewegungen sind, können sich in ihr die lange unterdrückten nationalen Forderungen Bahn brechen, die im „Kolonialstaat“ Rußland immer existierten. Es ist für Letten, Litauer, Esten, Georgier, Armenier, Weißrussen, Ukrainer, Moldavier durchaus begründbar, kulturelle Autonomie sowie das Recht auf offizielle Nationalsprachen zu fordern.

Die meisten Volksfrontführer wissen allerdings auch, daß Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit, so berechtigt sie angesichts der Geschichte sein mögen, den Bogen der Realpolitik nicht überspannen dürfen. Denn dies wäre eine Herausforderung, die selbst die Reformer in der Partei nicht bewältigen könnten. Die neuen Volksfronten eröffnen dagegen sogar die Möglichkeit, an ein neu definiertes Zusammenleben der Nationalitäten zu denken.

Erich Rathfelder