Georgische Volksfront unter Palmenwedeln

Gründungskongreß der Volksfront Georgien in der Hauptstadt der Sowjetrepublik / 15.000 GeorgierInnen sind schon Mitglied der Organisation / Sie fordern ein Mehrparteiensystem und die Unabhängigkeit der Republik  ■  Aus Tiblissi Barbara Kerneck

Unter der Schirmherrschaft weltberühmter Kinoregisseure und im Zeichen des Besuchs von Mutter Theresa wurde am Sonntag in der Kaukasusrepublik eine Volksfront gegründet. Der Name Tiblissi bedeutet „heiß“ und leitet sich angeblich von den Thermalquellen ab, die die Hauptstadt Georgiens früher zu einem beliebten Kurbad machten. Die Temperaturen am Wochenende in der malerischen, subtropischen Stadt rechtfertigen diesen Namen allderdings ebenso wie die Atmosphäre auf dem Gründungskongreß der Volksfront der Georgischen Sowjetrepublik. 1.956 Deputierte hatten sich hier in der Philharmonie - sorgfältig von Ordnern abgeschirmt - fünf Tage lang versammelt, um ihrer Organisation ein Statut zu geben, ihr ein Führungsorgan und einen Präsidenten zu wählen. Im Stab, nebenan im Klub der Filmschaffenden, lief inzwischen ununterbrochen die Registrierung der zukünftigen Mitglieder. 15.000 hatten sich bis zum Ende der fünftägigen Veranstaltung am späten Sonntagabend eingetragen, darunter ganze Organisationen und Fabriken.

Die Forderung nach einem parlamentarischen Mehrparteiensystem und die völlige Unabhängigkeit Georgiens von der Sowjetunion sind Hauptpunkte des Volksfrontprogramms. „Alles, was wir anstreben, läßt sich auf friedlichem Wege im Rahmen der neuen Sowjetkonstitution erreichen“, versicherten einer nach dem anderen die Kandidaten, die sich um einen der Sitze in dem 33köpfigen Führungsgremium bewarben - insgesamt waren es nicht weniger als 200.

Die Frage nach dem Verhältnis der Georgier zur Gewalt verschärfte sich, nachdem im April dieses Jahres fünf russische Bataillone der Streitkräfte des Innenministeriums eine friedliche Demonstration blutig niederschlugen. Es gab 20 Tote und zahlreiche Verletzte. Die Opfer eines damals eingesetzten Nervengases, das auch in Afghanistan angewandt worden war, liegen noch heute in den Krankenhäusern. Niemand geringeres als Mutter Theresa persönlich nahm dies zum Anlaß, der Stadt unter dem Jubel eines Teils der örtlichen Presse einen Besuch abzustatten und hier eine neue Station ihrer „Barmherzigen Mission“ zu gründen.

„Unsere Feinde wollten uns unsere Kultur vernichten, aber wir werden sie bewahren.“ Umrandet von den Buchstaben des georgischen Alphabets prangt diese Losung himmelblau auf einem filmleinwandgroßen Plakat auf dem Platz vor der Versammlungsstätte. Die ganze Stadt steht im Zeichen der weinroten Flagge, in deren rechter oberer Ecke ein Viereck aus einem schwarzen und einem weißen Streifen eingelassen ist: das Banner des selbständigen Staates Georgien, der hier 1918 von einer menschewistisch-sozialdemokratischen Regierung gegründet wurde und dem die Moskauer Zentralmacht drei Jahre später ein Ende setzte.

An Vorschlägen zur künstlerischen Umgestaltung des Wahrzeichens fehlt es nicht, befinden sich doch im Saal viele bekannte Persönlichkeiten aus dem Kulturleben. Ins Führungsgremium gewählt wurden unter anderem die Filmregisseurin Lana Gogoberiase und ihr Kollege Eldar Schengelaja, deren Beiträge schon vor Jahren international Aufsehen erregten. Nicht alle der Anwesenden waren damit einverstanden: „Es müssen nicht überall die gleichen Leute mitmischen, wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß dies hier eine ganz eigene Arbeitssphäre ist, und kein Kino und kein Theater“, meint eine Delegierte, von Beruf Physikerin, „aber die parlamentarische Arbeitsform hat bei uns noch immer den Glorienschein des Außerordentlichen.“

Später soll die Volksfront auch ein Parlament bekommen, in dem die Regionen des Landes proportional vertreten sein sollen. „Aber vorläufig kennen wir uns gegenseitig noch nicht gut genug“, erklärt ein Pressesprecher. Andere sagen es deutlicher: die alte Angst vor Spitzeln sitzt uns noch im Nacken und beeinträchtigt unsere Beziehungen untereinander.

Während der fünf Kongreßtage ist es im georgischen Hinterland zu dramatischen Aktionen gekommen: In den Städten Zitelzkaro, Kvareli und Gupdschani sind Rekruten in den Hungerstreik getreten. „Betet für uns, wir sollen nach Aschabad eingezogen werden“, fleht einer die KongreßteilnehmerInnen an. Der Dienst im benachbarten Turkmenistan ist wegen der Schikanan gegenüber Georgiern gefürchtet. Wehrdienst innerhalb der Grenzen der eigenen Republik ist deshalb einhellig Forderung des ganzen Kongresses.

Andere Fragen blieben offen und umstritten: so z.B. ob es wünschenswert sei, KPdSU-Mitglieder in die Volksfront aufzunehmen und wie schnell die geplante Loslösung von der UdSSR überhaupt vollzogen werden kann. „All unsere inhaltlichen Beschlüsse können korrgiert werden“, sagt ein Fernsehregisseur, der für die fünf Tage seine Arbeit im Stich ließ, um das Ereignis zu dokumentieren. „Wichtig ist, daß wir erstmals vor einem großen Forum geübt haben, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wenn die Volksfront erst registriert ist, neben wir in einem wegelosen Gebiet einen festen Stein zum Treten.“ Die offizielle Bestätigung der Organisation durch den Obersten Sowjet Georgiens war für diese Woche in Aussicht gestellt, doch ein neuer Nationalitätenkonflikt läßt einen so schnellen Erfolg fraglich erscheinen: die Loslösungsforderungen in der autonomen Republik Abchasien und ähnliche Bestrebungen in Südossetien, die im Mai und April zu Gegendemonstrationen in Tblissi geführt hatten, schienen auf dem Kongreß zunächst vergessen. Friedlich saßen abchasische Deputierte im Saal und bezeichneten den ganzen Konflikt zwischen Abchasiern und Grusiniern als aufgebauscht. Am Sonnabend kam dann die Hiobsbotschaft: In der Stadt Marneulis, nicht weit von Tblissi, hatten am selben Tag Aserbeidschaner, selbst Einwanderer, Angehörige des grusinischen Stammes der Svanen zu vertreiben versucht. Diese waren im Winter aus dem Hochgebirge in Flüchtlingsunterkünfte nach Marneuli gebracht worden. Führende Mitglieder der Volksfront erklärten dazu am Montag in Tblissi: „Wir lassen uns auf dem Weg zu Demokratie nicht zu nationalen Ausschreitungen provozieren.“