Abschied von der Sowjetunion?

■ In Lettland werden die Weichen auf Unabhängigkeit gestellt

Die Nationalitätenkonflikte scheinen den Reformern in Moskau über den Kopf zu wachsen. Überall im Riesenreich UdSSR, in Weißrußland, in Georgien, in Armenien, in der Ukraine und vor allem in den baltischen Ländern, sind neue Volksfronten für die Perestroika entstanden, die nicht nur die Demokratisierung der Gesellschaft fordern, sondern auch lange unterdrückte nationale Rechte wiederherstellen wollen. Sind diese Bewegungen eine Gefahr oder die Basis für die Perestroika? Die Letten jedenfalls diskutieren radikal darüber.

Es herrscht Aufbruchstimmung in Lettland. Die Vorgänge um die vorgestern zu Ende gegangene Ostseekonferenz in Edole bei Riga sind dafür nur ein Beispiel. Trotz eines Verbots der Konferenz machte sich die örtliche Kreisverwaltung den alten Bolschewikispruch „Alle Macht den Räten“ zu eigen und handelte selbständig. Sie zog die aufmarschierten Milizeinheiten wieder ab, und das gegen den ausdrücklichen Befehl des lettischen Innenministeriums. So etwas hat es vorher in diesem Land noch nicht gegeben.

Doch die Frage, die die Gemüter in Lettland noch sehr viel mehr bewegt, ist, ob sich ein derartiger Sieg der „Peripherie“ gegen das „Zentrum“ auch auf das Verhältnis zwischen der Republik Lettland und Moskau übertragen läßt. Denn Konflikte gibt es genug. Wenn die marode Wirtschaft nur Mangel produziert, wenn sich die mächtigen Allunionsministerien bedenkenlos über ökologische Belange vor Ort hinwegsetzen, wird von vielen Letten die staatliche Selbständigkeit als einziger Ausweg aus der Misere gesehen. Auch macht es Sorge, daß die Einwanderer aus der übrigen Sowjetunion schon fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Die Letten fürchten um die Existenz ihrer Kultur.

Für den lettischen Teil der Bevölkerung dient vor allem die Anfang Oktober 1988 gegründete und von führenden Intellektuellen inspirierte Volksfront (etwa 230.000 Mitglieder) als Katalysator ihrer demokratischen und nationalen Bestrebungen. Aber auch der Machtapparat in Lettland zeigt seit Herbst letzten Jahres Beweglichkeit: Trotz beharrlicher Bremsmanöver konservativer Zirkel hat er insgesamt einen gemäßigten Reformkurs eingeschlagen und dabei etliche Forderungen der Volksfront verwirklicht. Per Dekret wurden die alten rot-weiß-roten Farben offiziell als Nationalflagge anerkannt; der Ministerrat hat im Februar 1989 Maßnahmen zur Einschränkung der Zuwanderung verfügt. Der Oberste Sowjet hat Anfang Mai ein Gesetz verabschiedet, mit dem Lettisch in den Rang einer Staats- und Amtssprache erhoben wurde.

Insbesondere gegen die beiden letztgenannten Maßnahmen machte das Gegenstück zur Volksfront mobil, das nahezu ausschließlich von Nichtletten getragen ist, die Interfront (etwa 300.000 Mitglieder). Deren führende Köpfe rekrutieren sich aus den Reihen der Streitkräfte des mittleren Managements in Großbetrieben, die den Moskauer Ministerien direkt unterstellt sind, sowie der in Riga angesiedelten höheren Allunionslehranstalten. Kein Wunder also, daß die konservativen politischen Kräfte in der Republik mit dieser Bewegung sympathisieren.

Ultimativ forderte die Interfront den Obersten Sowjet Lettlands im Frühjahr sogar auf, auf die Verabschiedung des Sprachengesetzes zu verzichten. Als es dann allerdings am 26.April zur Nagelprobe kam, trat gerade ein Betrieb im Rigaer Hafen in den Ausstand. Der angekündigte Generalstreik fand nicht statt.

Dekrete des

Obersten Sowjets

Ungeachtet des mitunter in heftigem Ton geführten Schlagabtausches zwischen den beiden Fronten, hat sich der Reformkurs auf der offiziellen Ebene fortgesetzt. So hat das Präsidium des Obersten Sowjets der Republik erst jüngst den 14.Juni in Lettland zum Gedenktag an die Opfer der stalinistischen Repression erklärt. An diesem Tag waren 1941 16.000 Letten in die inneren Regionen der UdSSR, vor allem nach Sibirien, verschleppt worden. Vorausgegangen waren der Stalin-Hitler-Pakt vom 23.August 1939, mit dem die vormals unabhängige Ostseerepublik der sowjetischen Einflußsphäre zugeschlagen worden war. Der 1940 nach Scheinwahlen und in Anwesenheit von Truppen der Roten Armee erfolgte Beitritt zur UdSSR wird von vielen Letten heute nicht mehr anerkannt.

Mit einem zweiten Dekret hat das Präsidium des Obersten Sowjets Lettlands alle Bürger der Republik rehabilitiert, die in den 40er und 50er Jahren „durch ungerechtfertigt administrative Maßnahmen aus dem Territorium der Lettischen SSR verbracht worden sind“. Insgesamt, so besagen die neuesten offiziellen Angaben, hat die Sowjetmacht zwischen 1941 und 1952 fast 60.500 Menschen aus Lettland deportiert, bis 1963 war davon etwas mehr als die Hälfte in ihre Heimat zurückgekehrt.

Volksfront

für Unabhängigkeit

Bereits bei den Nachwahlen zum Kongreß der Volksdeputierten Mitte Mai wurden Spannungen aber auch innerhalb der Volksfront deutlich. Vertreter des radikalen Flügels warfen der Führung vor, sie würde Kandidaten aus dem Reformlager der Partei unterstützen und nicht die Vertreter der „Bewegung für die nationale Unabhängigkeit Lettlands“. Auch das Erlebnis, mit welchen Aggressionen viele Volksdeputierte in Moskau auf die Forderungen der baltischen Delegierten reagierten, trug zur Radikalisierung bei. Ein ukrainischer Deputierter hatte gar gemeint, die baltische Volksfront sei bereits dabei, „Sturmabteilungen“ aufzustellen. Mit Verweis auf diese Erfahrung sowie auf die blutigen Ereignisse vom 9.April im georgischen Tiflis hat die Führung der Volksfront Lettlands am 31.Mai erklärt, daß sie sich gezwungen sehe, ihr anfangs gültiges Konzept für eine Selbständigkeit im Rahmen der UdSSR zu revidieren und statt dessen die Frage zur Diskussion zu stellen, ob die Volksfront „für die vollständige politische und ökonomische Unabhängigkeit Lettlands kämpfen“ soll. Zugleich wird der Oberste Sowjet der Republik aufgerufen, in seiner Sitzung Mitte Juli eine Souveränitätserklärung nach estnischem und litauischem Muster zu verabschieden.

Auf der Gedenkfeier für die Opfer des 14.Juni 1941 rief der Vorsitzende der Volksfront Lettlands, Dainis Ivans, den zigtausend Zuhörern zu: „Wenn wir uns Menschen nennen und ein Volk sein wollen, dann heißt unsere einzige Alternative und der alleinige Sinn unseres Lebens: Freiheit in einem freien, erneuten Staat Lettland.“ Der Bericht verzeichnet anhaltenden Beifall. Die angekündigte Vorlage einer Souveränitätserklärung auf der Sitzung des Obersten Sowjets Lettlands Mitte Juli dürfte die Interfront aus ihrer Lethargie schrecken, in die sie seit ihrer Streikblamage verfallen schien, zumal im Sommer sich weitere geschichtsträchtige Daten häufen: 21.Juli - Gründung der Sowjetmacht in Lettland 1940; 5.August - „Beitritt“ Lettlands zur UdSSR 1940; 23.August - Stalin-Hitler-Pakt 1939. Allein schon der Kalender sorgt dafür, daß die Frage nach der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands auf der Tagesordnung bleibt.

Spekulationen

Gerade an dieser Frage wird aber auch deutlich, welche Verwerfungen der Stalinsche Terror und die Breschnewsche Stagnation im politischen Leben der Sowjetunion hinterlassen haben: Es mangelt offenkundig an Denkmodellen und Mechanismen, die in der Lage wären, das berechtigte Interesse der verschiedenen Nationalitäten an umfassender Selbstbestimmung aufzugreifen und für den dringend gebotenen gesellschaftlichen Umbau fruchtbar zu machen. Die betroffenen Völker reagieren mit Visionen von einem Austritt aus der UdSSR. Zu befürchten ist allerdings, daß dies ein Punkt ist, über den selbst Gorbatschow am wenigsten mit sich verhandeln lassen wird.

Umgekehrt aber könnte ein zäher und beharrlicher Einsatz für die konsequente Fortführung der Perestroika in der Sowjetunion sich letzten Endes als ein Weg erweisen, um - in Kopplung mit verfassungsmäßigen Garantien für weitreichende Souveränitätsrechte der Nationalitäten - das Verhalten zwischen der Moskauer Zentrale und der unruhigen Peripherie auf eine vernünftige Grundlage zu stellen und damit eine gewaltsame Lösung auszuschließen, die in ihrer Konsequenz alle unbestrittenen Erfolge des Reformkurses zunichte machen würde.

Ojars J. Rozitis