Kein Film über den Wind

■ Der jüngste Film von Joris Ivens, des dienstältesten Filmemachers der Welt, „Eine Geschichte über den Wind“, ist auf dem Münchener Filmfest zu sehen und kommt heute in die ersten bundesdeutschen Kinos.

Der Wind ist blau und im Himmel. Ein paar Wolken ziehen, das Flugzeug ist schneller. Eine Küste von oben. Das Meer sieht aus wie abgelagerte Gesteinsschichten. Der Wind hat es geformt. Aber vielleicht ist es auch eine Wüste. Und die Windzeichnungen sind im Sand. Mitten im Postkartenblau eine kleine Irritation. Mehr nicht. Aber das ist erst der Vorspann.

Dann sind wir in Holland, beim kleinen Joris, Anfang des Jahrhunderts. Die Kamera ist direkt hinter dem Windmühlenflügel postiert. Die Flügel schlagen, der Wind macht Krach. Der Ton scheppert fast. Ein Junge sitzt im selbstgebastelten Flugzeug. Ich fliege, sagt er. Nach China.

Danach ein Stück Stummfilm. Die Wüste in China. Kein Hauch regt sich. Was für ein Kontrast. Eine Mondlandschaft. Ein Tontechniker trägt ein Mikrofon durch den Sand. Später stecken viele Mikrofone auf langen Stangen im Sandhügel. Die Stangen werfen lange Schatten. Von weitem sehen sie aus wie Skulpturen von Giacometti.

Auf dem Sandhügel steht ein Stuhl. Das ist jetzt wie Magritte. Auf dem Stuhl sitzt Joris Ivens. Er wartet auf den Wind. Tage und Nächte. Bis er vom Stuhl fällt. Ein Moment von peinlicher Komik. Ivens hat Asthma: Zweimal ist er bei den Dreharbeiten beinahe gestorben und mußte mit Reanimationsmaschinen im Flugzeug nach Paris geschafft werden. Marceline Loridan dreht den Rest alleine.

Dies ist kein Film über den Wind. Man kann ihn nicht sehen. Höchstens seine Spuren. Aber auch die sind nur schmückendes Beiwerk. Schöne Landschaft als Design. Eine Geschichte über den Wind, das ist vor allem eine Personality-Show. Großaufnahme: das Gesicht des 90jährigen. Er sitzt immer noch auf dem Stuhl. Ein Priester, ein Chinese, ein Indianer mit langen Haaren, eine alte Frau. Kein Vexierbild, nicht mal so und mal anders, sondern alles zugleich. Ein markantes Gesicht und doch nicht zu identifizieren. Er sieht jünger aus als 90 und zugleich Jahrtausende alt. Die Augen sind starr, die einzige Bewegung ist der Lidschlag. Ein Antlitz im emphatischen Sinn des Wortes und doch fast kein Mensch mehr. Ein Leguan.

Ivens auf dem Stuhl, Ivens am Tropf, Ivens bei den chinesischen Tänzern, Ivens auf der Sänfte, Ivens am Stock, von hinten, von weitem und immer wieder: Großaufnahme. Vor allem stört mich, daß sein Anzug (beige), sein Pullover (creme) und sein Hemd (blau) so genau zur Wüste und zum Himmel passen. Die Ästhetik von Lord Extra. Kunsthandwerk.

Statt einer Geschichte über den Wind sehen wir ein Sammelsurium von Geschichten. Mit dem Wind haben sie oft nichts zu tun. Hauptsache mythisch. Das chinesische Märchen von den zehn Sonnen. Der Wetterbericht, auch auf chinesisch. Der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Ein Kung-Fu -Tänzer, der alte Meister und seine Eleven. Eine Windmaske. Die Hexe, die Zeichen in den Sand malt, damit der Wind kommt. Ein lange Reihe von riesigen Radarschirmen. Wie von Geisterhand schwenken sie lautlos und synchron ein paar Grad nach links. Der Buddha von Dazu. Eine Statue und drumherum tausend Hände, die Augen haben. „Der Buddha von Dazu forscht mit tausend Augen und tröstet mit tausend Händen.“ Ivens steht vor dem riesigen Wandrelief, sein Anzug hat wieder die passende Farbe.

Alte Filmausschnitte. Aus Ivens‘ Filmen Brandung von 1933, wo der Wind die Meereswellen aufschäumt, und 400 Millionen, Ivens‘ erstem Chinafilm. Aus George Melies‘ Stummfilm Die Reise zum Mond. Ivens hat im chinesischen Studio die Melies-Kulissen nachbauen lassen. Eine Märchenwelt. Die Frau steigt vom Mond herab, es ist ihr zu langweilig da, denn es gibt keinen Wind. Dann tanzt sie dem alten Mann etwas vor. Ein Bänderballett. Folklore. Kitsch. Der Mond spiegelt sich im Wasser. Der Wind kräuselt es. Noch ein Mythos, noch eine Legende.

Ivens erzählt vom Asthma. Meine Angst auszuatmen, sagt er. Und der alte Kung-Fu-Meister gibt Tao-Weisheiten zum besten. Ivens tut so, als ob er versteht. Was wir über den Wind erfahren, in vielen Sprachen, ist alles sehr poetisch. Wie die sanfte Saxophon-Minimalmusik. Die deutsche Stimme im Sprachengewirr sagt: „Ich bin der Liebhaber für einen Tag. Ich bin die kleine Brise.“ Nett. Und zwischendurch immer wieder Luftaufnahmen. Gebirge, Wasser, Wüste, Wolken. Nie weiß man genau, ob es Stein ist oder Sand oder flüssig, was man sieht. Ob die Wolken nicht vielleicht Rauch sind. Bilder, nicht ganz von dieser Welt. Immerhin.

Was fehlt: die mörderische Seite des Windes, seine komische Seite, das Unanständige. Der Slapstick, wenn einem der Hut wegfliegt. Die Winde, die man fahren läßt. Der Furz, der Rülpser. Der Hurrikan. Und beim Märchen von den zehn Sonnen, die die Erde verbrannten, weshalb der Knabe Opopolo mit Pfeil und Bogen neun Sonnen vom Himmel schießen muß, fehlt das komische Ende. Die letzte Sonne versteckt sich nämlich vor Schreck und läßt sich nicht einmal vom Gesang der Nachtigall wieder hervorlocken. Nur das häßliche Gekrächze des Hahns macht sie so neugierig, daß sie ihr Versteck hinterm Berg wieder verläßt.

Natürlich ist der Wind ein Symbol. Steht für Veränderung. Ivens hat so ziemlich alle Revolutionen, Befreiungskämpfe und Kriege dieses Jahrhunderts erlebt, sie gefilmt. Hatte immer wieder Schwierigkeiten mit Zensur, mit den Regierungen. Vor allem mit seiner eigenen, der niederländischen. Aber in der Sowjetunion zu Stalins Zeiten hatte er keine Probleme. Er weiß, daß es mit denen, die sich selbst Revolutionäre nennen, so eine Sache ist. Wie schnell sie andere zu Konterrevolutionären erklären und morden, im Namen der Revolution. Im Film ist nichts davon zu sehen. Das macht ihn zu schön, um wahr zu sein. Nicht nur, weil die poetischen Bilder aus dem Reich der Mitte jetzt, wo dort die Studenten hingerichtet werden, makaber aussehen.

Und doch gibt es eine wunderbare Szene über Chinas Bürokraten. Ivens will im Museum die 7.000 steinernen Krieger filmen, die das Grab des Kaisers bewachen. Acht Tage lang verhandelt er über die Drehzeit. Sie wollen ihm nur 10 Minuten geben. Am achten Tag lehnt er wütend endgültig ab. Dann kauft er auf dem Markt kleine Kopien der Statuen. Ivens wird im Rollstuhl zwischen den Ständen durchgefahren und freut sich wie ein Kind über jeden erstandenen Krieger. Sie bauen ihr steinernes Miniheer in der Wüste auf, stellen Spiegel dahinter. Jetzt sieht es aus wie 7.000. Die Szene geht leider noch weiter. Ivens steht mitten im Heer, die Statuen - jetzt sind es verkleidete Statisten - marschieren. Lassen ihn stehen, er schaut ihnen nach. Schon wieder Symbolik.

Fast immer in diesem Film sieht etwas aus wie. Wie Futurismus. Wie Reklame. Wie Melies. Wie eine Metapher. Und Ivens wie ein Chinese. Nur bei den Statuen spielt Ivens zunächst damit, daß eins für das andere steht. Nur hier, als er seine Arbeitsbedingungen dokumentiert und ausnahmsweise einmal nicht Kunst macht, ist er ironisch. Ganz nebenbei. Der wohl als Satire aufs heutige China gemeinte surrealistische Jahrmarkt mit dem Parteikongreßredner auf der Tribüne, dem das Stromkabel gekappt wird, mit Hochzeit, Kinderchor und Athleten an Reck und Barren erzählt längst nicht soviel über China.

Am Schluß wieder die Wüste. Die Filmcrew wartet immer noch auf den Wind. Die Kinder und Frauen im Zelt, die Männer im Schlafsack draußen, die Kamele. Es ist langweilig. Dann kommt er, endlich. Die stille Wüstenlandschaft gerät in Bewegung. Die Konturen verwischen, der Sand züngelt, die Hügel dampfen. „Wir haben ihn mit den Kameras gezähmt“, sagt Ivens. „Soll er nur kommen.“ Gleich explodiert der Vulkan. Aber da ist der Film zu Ende.

chp

Joris Ivens, Marceline Loridan: Eine Geschichte über den Wind, mit Joris Ivens, Liu Guilian, Liu Zhuang u.a., Frankreich/Niederlande 1988, 80 Min.

Der Film startet heute in Frankfurt und Köln, am 6.Juli in Stuttgart, voraussichtlich am 13.Juli in Berlin.