Das Sosein des Objekts

■ Jacques Rivettes „Viererbande“

Thierry Chervel

Vier Schauspielschülerinnen, die gemeinsam ein Haus in der Pariser Banlieue bewohnen, proben unter einer strengen Lehrerin namens Constance La double inconstance von Marivaux. In ihrem Haus bergen sie, ohne es zu wissen, den Schlüssel zu einem Geheimnis, den ein Polizist ihnen entreißen will. Zuletzt sind sie auf sich gestellt - den Polizisten sind sie los, wofür eine von ihnen ins Gefängnis geht, aber auch die Lehrerin sind sie los, die äußere Bedrohung und den inneren Halt. Objekt

„Et voila qui est fini“, sagt leise Lucia (Ines d'Almeida), eine Portugiesin von überirdischer Schönheit, die in der letzten Szene von Marivaux‘ Komödie und des Films die Silvia spielt. Silvia ist geknickt, weil sie glücklich ist. Sie liebt einen Prinzen, nun hat sie es Arlequin gesagt, den sie zuvor geliebt hat. Sie ahnt nicht, daß auch Arlequin längst eine andere hat. „Tröste dich, und damit Ende.“ Bei diesen letzten Worten wendet Silvia, bzw. eigentlich Lucia, das heißt eigentlich Ines d'Almeida - sich ab, wie um Arlequin bei ihrem schlimmen Geständnis nicht in die Augen blicken zu müssen. Eine Sekunde lang bleibt die Kamera noch auf ihrer Gestalt, und damit ist wirklich Ende. Abrupte Schwarzblende

-es folgen nur noch die Widmung „für die Gefangenen“, der Abspann und zum ersten Mal: Musik, eine Melodie von Monteverdi, die langsam vom Himmel sinkt, auf der Mollterz einsetzt und Schritt für Schritt anderthalb Oktaven durchmißt.

Dieser Schluß ist so überwältigend, weil er sich nach zwei Stunden, vierzig Minuten oder viereinhalb Kilometern Film mit einer so kleinen Geste begnügt, ein Blick, der gesenkt wird, und die Musik, als dürfte der Film jetzt erst, da das Saallicht nüchtern dämmert, seine Zurückhaltung aufgeben.

Daß die Deklamation der letzten Sätze Silvias und des Films nach den Kriterien der Schauspielkunst keineswegs vollkommen ist - Ines d'Almeida nuschelt fast, verschluckt Silben und einen ganzen Satz, der ihr offensichtlich nicht einfällt, macht sie nur wahrer. Denn wessen Stimme ist es, die da versagt - die von Ines d'Almeida, die vielleicht nicht ganz bei sich und darum umso mehr sie selbst ist und die in diesem moment de grace von der Kamera eingefangen wird; die von Lucia, die die Sätze gewissermaßen für sich selbst memoriert und dabei unwillkürlich den wahren Ton trifft; oder doch die von Silvia, die sich die Sätze in Erwartung der peinlichen Situation tausendmal zurechtgelegt hat und nur noch linkisch aufsagen kann, als Arlequin endlich kommt? Dieses Spiel des dreifach in sich gestaffelten Blicks auf das Spiel der Schauspielerinnen ist der Film.

Er ist jedenfalls kein Film über Theater. Überhaupt ist er kein Film über. Er setzt die Schauspielerinnen nicht ein, um über irgendetwas - zum Beispiel Theater - zu reflektieren, sondern will selbst nur ihr Reflex sein, das Schauspiel, das die Schauspielerinnen sind. Das Theater ist also nur der Trick, der es ihm gestattet, seinem Objekt die äußerste Reverenz zu erweisen: es so sein zu lassen, wie es ist, die jungen Schauspielerinnen - es gibt tatsächlich nur Schauspielerinnen, Constance nimmt in ihre Schule nur Frauen auf - Schauspielerinnen spielen zu lassen. Kontinuität

Ihre kleinsten Gesten: Darin resümiert sich der Film. Alles ist aufgehoben, die Momente der reinen Präsenz, aber auch die falschen Bewegungen, die kleinen Unbeherrschtheiten und Unvollkommenheiten des Spiels, in den häuslichen Szenen wie in der Probenarbeit, auch die falschen Töne - in der hellhörigen Akustik des Films immer deutlich hörbar - sind nicht falsch, sie gehören dazu. Der Blick wandert durch die verschiedenen Masken der Schauspielerinnen und von einer zur andern - selten ist eine im Bild alleingelassen - die schöne Anna (Fejria Deliba), die stille Joyce (Bernadette Giraud), die chaotische Claude (Laurence Cote), die geheimnisvolle Cecile (Nathalie Richard) und die kühle Constance (Bulle Ogier) - und kann sich nicht sättigen am Beziehungszauber.

Es ist der Blick der Zuschauers, der so flaniert, nicht der des Films, der sich einfach offen und weit hält und niemals nach Details greift, um sie isoliert herauszustellen. Der Film setzt den Rahmen, in dem sich die Blicke bewegen und gibt diesen Bewegungen den Rhythmus, den Fluß, der sie mit und wieder losreißt.

Der Rhythmus des Films ist ein stetes, wiegendes Hin und Her: WG - kurz eingeblendeter Vorortzug - Theater Vorortzug - WG usw., erst gegen Ende, bei der dramatischen Zuspitzung, gerät dieses Hin und Her durcheinander. In der WG dominieren die Blautöne, im Theater das Rot, die relativ seltenen Außenszenen sind winterlich grau, die sehr wenigen dritten Innenräume, die hinzukommen, darunter eine Bar und eine Galerie, sind in sehr kühlen Weiß- und Schwarztönen gehalten und assoziiert mit der Figur des Polizisten. Technik

Der Film, wahre Liebe, die ihr Objekt nur betrachten will, tut alles, um kein Aufhebens von sich zu machen und sich die Kontinuität, das heißt vor allem die konstante Blickmöglichkeit zu erhalten. Die Kamera leugnet zwar nicht ihre Präsenz, ist aber gewissermaßen schüchtern. Sie hält auf Distanz und stellt sich niemals in Positur. Die Einstellungswinkel, die sie wählt, sind immer „natürlich“, Augenhöhe, etwas darüber oder darunter, nie extrem oder voyeurshaft. Die Distanz ist so berechnet, daß die Schauspielerinnen auf einer Programmkinoleinwand etwa in ihrer wirklichen Größe erscheinen - Halbtotale also, darum ist der Film fürs Fernsehen so völlig ungeeignet, die Details sind nicht mehr zu erkennen, der Blick kann nicht mehr wandern, die Freiheit, die der Film ihm schenkt, ist dahin.

Die Schnitte innerhalb der Episoden sind unauffällig, die Einstellungen dazwischen relativ lang. Lieber noch als Schnitte werden Schwenks oder Fahrten eingesetzt. Vorsichtig umkreist die Kamera das Schauspiel der Schauspielerinnen, das sie nur zu verfolgen scheint und das sich ihren Bewegungen doch so leichthin fügt, und kadriert es neu. Lösung

Der Film setzt ein Schauspiel in Gang, um ihm seinen Lauf zu lassen. Das ist die souveränste Inszenierung, oder soll man sagen: Machination? Er sucht die Passivität, der Blick soll sich lösen, nicht fixieren. Dazu gehört, daß er von seinem Objekt, das er so sein läßt, wie es ist, nichts wissen will. Er fragt nicht nach dem Geheimnis der Anmut, des Geists, der Formen, der Kunst, der Schönheit und der Beziehungen seiner Schauspielerinnen, die darum einfach da sind.

Ins geheime Zentrum des Films aber, als hätte er ihn sonst nicht machen können, hat Rivette ein Schreckbild seiner selbst projiziert: den Polizisten (Benoit Regent), durchaus ein Mann von Bildung, Charme und Kultur, Kunstkenner, Philosoph, Geschichtenerzähler, Intrigenspinner. Er weiß, daß im Haus der vier Frauen ein Schlüssel versteckt ist und will ihn haben - eine dunkle Angelegenheit um die Mafia, einen Briefwechsel, der nicht an die Öffentlichkeit geraten darf und in einem Schließfach liegt und den Geliebten einer der Schauspielerinnen, die früher auch in dem Haus gewohnt hat. Er macht sich an die Frauen heran, zunächst unauffällig, dann immer ungenierter, verführt die eine, greift nach der anderen, fragt sie aus, nistet sich gar ins Haus ein. Als er den Schlüssel aber endlich hat, streckt es ihn nieder. Es ist, als schlüge sich Rivette in dem Moment selbst auf die Finger.

Die Viererbande, von Jacques Rivette, mit Bulle Ogier, Benoit Regent, Laurence Cote, Fejria Deliba, Ines d'Almeida, Bernadette Giraud, Nathalie Richard u.a., Drehbuch: Jacques Rivette, Pascal Bonitzer, Christine Laurent, Kamera: Caroline Champetier, Frankreich 1988, 160 Min.

Das Institut Fran?ais München hat in Zusammenarbeit mit dem Münchener Filmzentrum als Nummer 24/25 der Revue Cicim einen Band mit Jacques Rivettes „Schriften zum Kino“ herausgegeben. Man kann ihn im Institut Fran?ais München zum Preis von 12 DM bestellen.