U-Boot-Unfall war viel gefährlicher

■ Norwegische Strahlenschutzbehörde spricht von der Möglichkeit einer Katastrophe / Die Besatzung soll hohe Strahlenwerte abbekommen haben / Massive Kritik an der Informationspolitik der Sowjets

Oslo/Berlin (taz) - Die letzte „Havarie“ des sowjetischen Atom-U-Bootes vor der norwegischen Küste war offenbar weit gravierender als bisher angenommen. Der Direktor der norwegischen Strahlenschutzbehörde Knut Gusgard gab am Dienstag vor der Presse eine dramatische Einschätzung des Unfalls.

„Bei einem Ersuchen der Sowjets, mit dem verunglückten U -Boot einen norwegischen Hafen anzulaufen, hätte ich absolut nein gesagt“, faßte Gusgard seine Analyse des Unfalls zusammen. Seine Einschätzung basiere auf den Informationen, die von den Sowjets geliefert wurden und auf der Auswertung von Fotomaterial der norwegischen Helikopter. „Danach steht für uns fest, daß ein Leck im innersten Kühlkreis des einen Reaktors entstanden war.“ Dieses Leck habe zu einem Kühlwasserverlust geführt. Schlimmste Konsequenz eines Kühlmittelverlustes wäre die Kernschmelze des Reaktors. Um dies zu verhindern, sei von einem sowjetischen Begleitschiff Wasser in das U-Boot gepumpt worden. Die veröffentlichten Bilder, bei denen Rauch aus dem U-Boot austritt, gingen auf dieses Rettungsmanöver zurück. Das Wasser sei in den heißen Reaktor gepumpt worden und der Rauch nichts anderes gewesen als Wasserdampf, aufgeladen mit radioaktiven Partikeln aus dem Kühlsystem. Gusgard weiter: „Bezogen auf Luft und Wasser waren es kleine Mengen radioaktiver Strahlung, aber die Besatzung hat vermutlich hohe Strahlenwerte abbekommen.“

Damit sei der neue U-Boot-Unfall weit gravierender gewesen als der Untergang des sowjetischen U-Bootes am 7.April. „Am Montag haben die Sowjets offensichtlich sofort den Reaktor abgeschaltet und dann mit dem hereingepumpten Wasser langsam abgekühlt. Bevor dies aber glückte, bestand die Gefahr einer Katastrophe.“ Das Unglück geschah lediglich 110 Kilometer von Hammerfest, der nördlichsten norwegischen Stadt entfernt. Die norwegische Regierung hat die unzureichende Information durch die Sowjets als „unakzeptabel“ kritisiert. Das verunglückte Schiff war von norwegischen Militärflugzeugen entdeckt worden. Erst Stunden danach sei nach wiederholten Anfragen der Unfall bestätigt, aber jede norwegische Hilfe abgelehnt worden.

Auch Greenpeace hat gestern die Sowjetunion „dringend aufgefordert, unverzüglich sämtlich Fakten über den jüngsten U-Boot-Unfall offenzulegen“. Im Gegensatz zu allen offiziellen Verlautbarungen liege der Verdacht nahe, daß Radioaktivität ausgetreten ist.

Gerd Leipold, Atom-Experte der Umweltschützer, ist überzeugt, daß es sich „um einen der dramatischsten Unfälle überhaupt“ gehandelt hat und daß tatsächlich die Gefahr einer Kernschmelze bestanden habe. Entgegen den bisherigen Annahmen sei offenbar kein Feuer ausgebrochen. Statt dessen sei es durch einen Rohrdefekt oder durch eine Explosion im Primärkreislauf zu einem schweren Unfall im Innern des Reaktors gekommen. Das Hereinpumpen von Wasser sei, so Leipold, ein verzweifelter Versuch gewesen, um den Reaktor zu kühlen.

Unterdessen ist das U-Boot gestern wieder in seinen Heimathafen Seweromorsk zurückgekehrt. 'Tass‘ meldete gestern, eine Kommission habe mit der Untersuchung des Unglücks begonnen. Die 'Prawda‘ machte Schlamperei und Unfähigkeit des Militärs für den Zwischenfall verantwortlich und forderte personelle Konsequenzen. Das Blatt zitiert Lenin: „Wir haben keinen schonungslosen Kampf gegen die konkreten Träger des Übels geführt.“

r.w./-man