: Sozialreform oder Revolution?
■ In ihrem Buch „Die Gorbatschow-Strategie; Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR“ erörtert die sowjetische Ökonomin und Meinungsforscherin Tatjana Saslawskaja die Frage der sozialen Gerechtigkeit in der „zweiten sozialistischen Revolution“
Die historische Bedeutung der sowjetischen Perestroika liegt ganz offensichtlich nicht allein in der neuen Friedenspolitik Gorbatschows, in Abrüstung und Entspannung vielmehr ganz entscheidend auch in der Entstehung eines neuen sozialistischen Modells. Die Frage ist, weshalb und inwiefern diese Reformen in ihrer Zielrichtung eine neue Qualität des Sozialismus darstellen, warum und ob dieser Übergang von einer poststalinistischen Stagnationsära unter Breschnew zu einer modernen entwickelten demokratischen und sozialistischen Gesellschaft als revolutionär gelten muß.
Daran anschließend drängt sich die Frage auf, welche Gestalt und konkrete Form in der ökonomischen Sphäre, also der Basis der Gesellschaft, diese strukturellen Veränderungen denn nun anzunehmen hat, wie das Reformwerk um nicht Stückwerk zu bleiben - praktisch und real umzusetzen ist.
Auf diese Frage versucht die sowjetische Wirtschaftssoziologin Tatjana Saslawskaja in ihrem höchstaktuellen Buch Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR eine Antwort. Saslawskaja untermauert dabei nicht nur schlüssig ihre These von der sowjetischen Umgestaltung als „zweiter sozialistischer Revolution“ (23), sondern sie spricht auch die vielfältigen Hindernisse und Widersprüche an, nennt Gewinner und Verlierer, Unterstützer und Feinde der Perestroika als Kurskorrektur auf den richtigen Weg zum Sozialismus.
Ihre Logik gewinnen die Aufzeichnungen dieser Befürworterin radikaler Reformen von ihrem Ausgangspunkt: der Analyse der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation in der Sowjetunion. Diese kann nicht anders beschrieben werden als ökonomische Misere, wie akurat nachgewiesen wird.
Die Weltmachtstellung und militärische Stärke der SU wurde ja immer erkauft auf Kosten des Lebensstandards und der Lebensqualität der Bevölkerung. Gerade deshalb erhält die Perestroika ihre offensichtliche Notwendigkeit aus der Diskrepanz der wirtschaftlichen Erträge und der realen Entwicklungsmöglichkeiten.
Die darausfolgenden Zwänge, jahrelange Perspektivlosigkeit und der Druck der Alltagssorgen hatte Auswirkungen auf das Verhalten des Einzelnen: Gleichgültigkeit, Schlamperei und die Initiativlosigkeit waren die Folge. „Als Soziopsychologisches Ergebnis trat zwischen den Menschen und den gesellschaftlichen Zielsetzungen und Wertvorstellungen eine massive Entfremdung auf, und Gleichgültigkeit gegenüber dem sozialistischen Eigentum breitete sich aus. Es häuften sich Fälle von kleineren Diebstählen: in den Konditoreien wurden Kakao, Kognak und Butter, auf den Baustellen Farben, Ölfirnis, Tapeten, Armaturen weggepackt.“ (68)
Die Grundfrage, die der Perestroika zugrunde liegt, lautet für Tatjana Saslawskaja deshalb: Wie kann diese Misere überwunden und der Lebensstandard der Bevölkerung erhöht werden? Dabei wird schnell offensichtlich, daß die Gründe für ökonomische Fehlentwicklungen nicht allein in der Disziplinlosigkeit, mangelndem Verantwortungsbewußtsein oder Neigung zur Trunksucht bei Einzelpersönlichkeiten zu suchen sind. Das Dilemma ist vielmehr strukturell.
Insofern es auch strukturell angegangen werden muß. Über die Zielsetzung, um die es dabei geht, ist sich Saslawskaja im klaren: “...einerseits eine Anhebung der Effizienz im Produktionsbereich und die bessere Befriedigung der Verbraucherbedürfnisse, andererseits die Demokratisierung der Wirtschaft und einen Pluralismus der Organisationsformen.“ (125)
Das heißt:
-weitgehende Eigenständigkeit der Betriebe mit Selbstfinanzierung und Einführung der Produktion nach dem ökonomisch eigentlich selbstverständlichen Kostendeckungsprinzip.
-Gleichzeitige Reduktion des Staatseinflusses auf die Festsetzung von langfristigen „Normativen“ und auf die Vergabe von Staatsaufträgen.
-Selbstverwaltung und Wirtschaftsdemokratie durch Demokratisierung der Produktionsleitung.
-Einführung einer indikativen Rahmenplanung und schrittweise Entwicklung eines sozialistischen Marktes.
Warum diese Maßnahmen ein „Mehr“ an Sozialismus bedeuten, wird von der sowjetischen Ökonomin auf den ersten 40 Seiten erörtert. Anhand eines Kriterienkatalogs wird die Übereinstimmung der Perestroika mit den Zielen einer sozialistischen Gesellschaft nachgewiesen: Unter anderem die Abschaffung der Ausbeutung, die politische Macht der Werktätigen, der Wohlstand der Bevölkerung und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als Vorbedingung des Sozialismus. Es darf ja nicht vergessen werden, daß auch die bisher spärlich zugelassenen selbständigen Kooperativen nicht als Privateigentümer, sondern auf genossenschaftlicher Grundlage produzieren.
„Die Hauptfunktion der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist es, der Demokratie in der gesellschaft eine wirtschaftliche Basis zu geben. Diese Funktion kann sie jedoch in der Praxis nur dann erfüllen, wenn die ganze Kette der Eigentumsbeziehungen - Besitz, Verfügungsgewalt und Nutzung - demokratisch organisiert wird und die Produktionskollektive selbstverwaltet und in den ökonomischen Beziehungen untereinander gleichberechtigt sind.“ (92) Tatjana Saslawskaja geht dabei davon aus, daß der Grad an Demokratie desto höher ist, je vielfältiger die Bandbreite der ökonomischen Austauschprinzipien ist und je pluralistischer Besitz und Nutzung der Produktionsmittel organisiert sind.
Auffällig bleibt, daß trotz weitgehender Übereinstimmung mit keinem Wort auf die Parallelen zu den Reformen des „Prager Frühlings“ eingegangen wird. Offen bleibt für den westlichen Leser, ob diese Zurückhaltung immer noch eine bewußte Vorsichtsmaßnahme darstellt oder ob sich die sowjetischen Reformer nicht klar bewußt sind, in welcher Tradition eines humanistischen Sozialismus sie eigentlich stehen.
Etwas enttäuschend ist auch die mangelnde Bezugnahme auf die marxistischen Klassiker. Da hätte man sich von einer gerade auf diesem Gebiet umfassend geschulten sowjetischen Ökonomin mehr erwartet. Andererseits ist aufgrund der wenigen Namensnennungen und Verweise das Fehlen eines Registers nicht allzu schmerzlich.
Wer heute über Perestroika und modernen Sozialsmus mitreden will, wer einer theoretischen Grundlage bedarf und eines zeitgemäßen Begriffsvokabulars nicht zuletzt für eine stichhaltige Kapitalismuskritik, der muß dieses Buch lesen. Billige Gegenüberstellungen und bloße Schwarzweißmalereien, die als unseliges Erbe der 70er Jahre auch heute noch in scheinbar sozialistischen Köpfen spuken, greifen heute längst nicht mehr.
Stephan Käppler
Tatjana Saslawaskaja: „Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR“, Orac-Verlag 1989, 320 Seiten, 44 DM
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