Guerilleros proben den Frieden: Die nationalistische kolumbianische Guerilla M-19 will zurück ins legale politische Leben/"Für den Frieden werden wir das Unmögliche tun"/Die Verhandlungen mit der Regierung schleppen sich seit Januar hin...

Der Weg zum Frieden ist mühsam. Wer die Guerilla-Bewegung M -19 in ihrem Lager besuchen möchte, muß von der Provinzhauptstadt Cali aus eine strapaziöse Fahrt im Jeep unternehmen: Drei Stunden geht es auf schlechten Straßen die steilen Hänge der kolumbianischen Anden hinauf. Gelangweilte, aber freundliche Soldaten kontrollieren an zwei Straßensperren die Presseausweise. Die letzten 45 Minuten Fahrt gehen - der Fahrer flucht - über einen Feldweg, auf dem die Felsbrocken nur so kreuz und quer liegen. Der Weg ist mühsam, doch noch beschwerlicher ist er in Kriegszeiten: Dann können tagelang Fußmärsche nötig sein, um mit den Kämpfern in den Bergen Kontakt aufzunehmen.

Wenn alles klappt, sollen solche Kommunikationsschwierigkeiten mit dem M-19 schon bald ganz wegfallen, und dessen Mitglieder in den Großstädten legal tätig sein. Die zwischen 500 und 1.000 Kämpfer zählende Guerillabewegung befindet sich seit Ende vergangenen Jahres in Friedensverhandlungen mit der Regierung und hat in Übereinstimmung mit Präsident Virgilio Barco in den letzten Wochen einen Großteil ihrer Truppen in Santo Domingo, einer vergessenen Häuseransammlung in der Provinz Cauca, zusammengezogen. Währenddessen verhandeln die „dreizehn Friedensapostel“ des M-19 in der Hauptstadt Bogota mit Regierung und Parteien über eine Wiedereingliederung in das legale politische Leben und Verfassungsreformen. Noch vor den nächsten Präsidentschaftswahlen im Mai 1990 soll der M -19, der sich mit seinem Namen - Bewegung 19.April - auf einen vermeintlichen Wahlbetrug 1970 bezieht, die Waffen niedergelegt haben.

Idylle mit Maschinengewehren

„Villa Paz“ - „Ortschaft Frieden“ - haben die Guerilleros Santo Domingo umgetauft. Ein Pärchen überquert Arm in Arm die Wiese und bloß die umgehängten, geladenen Maschinengewehre erinnern daran, daß sie vor gar nicht so langer Zeit Gefechte durchstehen mußten. Weiter oben sitzt eine Gruppe jugendlicher Kämpfer und erzählt Witze. Abends trifft sich das halbe Lager im Krämerladen und schüttet beträchtliche Mengen Brandy, Rum und Anisschnaps in sich hinein. Wochentags wird um fünf Uhr morgens in streng militärischer Disziplin Frühsport getrieben und Spalier gestanden - um dann später Holz zu hacken und Häuser zu bauen.

Ein schlanker hochgewachsener Mann im blaugescheckten Poncho mit weißem Panamahut empfängt uns: Carlos Pizzaro Leongomez, oberster Kommandant des M-19. Der aufmerksame und freundliche Sohn eines Admirals der kolumbianischen Marine ist ein Zögling der Bourgeoisie Calis. Wenn er spricht - und Pizzaro redet gerne - tut er es überlegt und präzise, und selbst beim dritten Interview am selben Nachmittag setzte er noch alles daran, seinen Gesprächspartner zu überzeugen. Seit der Unterzeichnung des Abkommens mit der Regierung damals trug er einen Pullover mit der Aufschrift „Big Stuff“ - wird Pizzaro in Kolumbien fast liebevoll „Comandante Papito“ genannt, was etwa „Kommandant Schönling“ entspricht. In Klatschsendungen im Radio vergleichen schwärmerische Reporterinnen den langjährigen Guerillero mit Omar Scharif. Ganz sicher wird jemand auf die Idee kommen, Pizzaro zum „Mann des Jahres 1989“ zu ernennen.

Unverständliches Kolumbien: Wie kann einem Mann, der anderswo als Staatsfeind gelten würde, soviel wohlwollende Aufmerksamkeit zukommen? Gewaltsamer Aufstand hat in Kolumbien Tradition, die Existenz der Guerilleros empört in der Öffentlichkeit keinen, auch wenn sie blutig bekämpft werden. Der „eme“ - wieder eine eher vertrauliche Bezeichnung für den M-19 - erschien erstmals 1974 mit dem Raub des Schwertes von Simon Bolivar, dem Feldherr der südamerikanischen Unabhängigkeitskriege. Das Schwert - so ließ der M-19 verlautbaren - würde erst zurückgegeben werden, wenn die von Bolivar immer gewünschte Freiheit erreicht sei. Derart publicity-trächtige Einfälle charakterisierten auch in den folgenden Jahren die undogmatischen Guerilleros. „Die Revolution ist ein Fest“, formulierte der langjährige Führer Jaime Bateman, der 1983 bei einem mysteriösen Flugzeugunglück starb.

Gescheiterter Friedensversuch

Als 1984 der damalige Präsident Belisario Betancur Friedensverhandlungen initiierte, schloß der M-19 ein Waffenstillstandsabkommen mit der Regierung. Wenngleich militärisch nicht ausschlaggebend, war der M-19 mit seiner Publicity doch für viele Machthaber politisch gefährlich: Systematisch wurden reiheweise Mitglieder der Führung der Guerillabewegung ermordet. Im November 1985 besetzte ein Kommando des M-19 den Justizpalast in Bogota. In einer 28stündigen Schlacht gelang es dem Militär das Gebäude zurückzuerobern, doch über 100 Menschen starben in dem vom Militär entfachten Kugelhagel, unter ihnen zwölf der obersten Richter Kolumbiens. Der Sturm auf den Justizpalast markierte nicht nur das definitive Ende des Friedensprozesses, sondern auch den militärischen und politischen Niedergang des M-19: Die Kolumbianer konnten in dem Inferno des Justizpalastes das freundliche Antlitz der nationalistischen Guerilla nicht wiederfinden.

Es ist schwer, sich die friedlich in Santo Domingo herumsitzenden Guerilleros in blutigen Kämpfen vorzustellen. Das Projekt der kolumbianischen Guerilla sei gescheitert, erklärt uns Kommandant Raul. Carlos Pizzaro bemerkt: „Ein Krieg, der einer Nation aufgezwungen wird, die ihn gar nicht will, weil politische Veränderungen auch auf anderem Wege zu erreichen sind, ist ein unnützer Krieg. Einer Revolution, die die Nation an den Rand der totalen Auflösung stellt, ziehen wir radikalen Reformismus vor.“ Tatsächlich ist jegliche Chance zur Machtergreifung weit entfernt. „Man muß realistisch sein.“ Nicht umsonst fällt in Santo Domingo bei Gesprächen immer wieder, wenn auch oft im Scherz, das Wort von der Sozialdemokratie. Anders denken die anderen, größeren und marxistischen Guerillagruppen Kolumbiens: Sie scheinen sich auf ernsthafte Friedensverhandlungen bisher nicht einlassen zu wollen.

Coca-Felder am Stadtrand

Auf dem Weg nach Santo Domingo bemerken wir an den gegenüberliegenden Hängen kleine hellgrüne Flecken: Coca -Felder, zum Eigenkonsum der Indios, aber auch zur Herstellung von „Bazuco“, eines Crack-ähnlichen Nebenprodukts des Kokain. Daß so nahe an der Provinzhauptstadt illegale Drogen angebaut werden können, zeigt auch Machtlosigkeit des Staates. „Wir müssen das Land in all seiner Komplexität betrachten, weil auch wir es in den letzten Jahren verändert haben. Altbackene Ideologien immer neu zu wiederholen, ist - mit allem Respekt - ein bißchen idiotisch“, meint Carlos Pizzaro. Allein 1988 sind über 500 Politiker, Gewerkschafter, Studenten und Bauern von rechtsradikalen Todesschwadronen ermordet worden. Für die allermeisten Linken Kolumbiens geht dieser schmutzige Krieg vom Staat und der Bourgeoisie aus. Für den M-19 dagegen steckt hinter den Morden nicht so sehr die Regierung, sondern in erster Linie die Drogenmafia, die sich mit regionalen Machthabern - oft auch Teilen der militärischen Hierarchie - verbündet. Hier liegt eine Chance des M-19 für einen definitiven Verzicht auf die Waffen: „Wir haben keine Probleme mit denjenigen Paramilitärs, die Verbindungen zur Drogenmafia haben. Wir haben institutionelle Probleme, unser Feind ist der Staat, die politische Klasse, die Armee gewesen. Und mit ihnen verhandeln wir ja gerade.“ Der M-19 hat Gespräche mit der Drogenmafia und den Paramilitärs vorgeschlagen. Carlos Pizzaro: „Es gibt verschiedene Formen, der Realität entgegenzutreten. Auch die Paramilitärs haben ihre Realität. Wir alle haben uns Exzesse zuschulden kommen lassen.“

Er sei in den M-19 eingetreten, weil ihn das militärische Training fasziniert habe, erzählt uns ein 20jähriger Guerillero. Sicher, bei Gefechten habe auch er - wie alle anderen - Angst, aber es sei ja alles für einen guten Zweck. Dunkle Gesichter, untersetzte Gestalten: die Guerilleros, die in Santo Domingo lagern, sind in erster Linie einfache Bauern und Indios. Viele Jugendliche und einige mit Maschinengewehren bewaffnete 13- und 15jährige sind dabei. Bei Gesprächen reden sie von der „Oligarchie“ und der „Nation“, von einer „gerechteren Welt“ - doch manchmal ist offensichtlich, daß sie nur die gelernte Ideologie auswendig herunterplappern. Der Griff zur Waffe ist zu einem Lebensstil geworden, bei dem politische Gründe nicht unbedingt ausschlaggebend sind.

Blutige Kämpfe

seit den 50er Jahren

28. oder 29.November - darin sind sich die Zeitzeugen nicht einig - um vier Uhr morgens im Jahre 1958: Guerilleros der liberalen Partei beginnen einen Angriff auf das mehrheitlich von Konservativen bewohnte Santo Domingo. Das Gefecht dauert bis in den Vormittag hinein, und als es beendet ist, liegt Santo Domingo in Schutt und Asche. Die 18 Häuser der konservativen Familien sind niedergebrannt. 21 Menschen tot, unter ihnen ein Kind. Gewalt in Kolumbien: eine Szene aus dem Bürgerkrieg der fünfziger Jahre zwischen Konservativen und Liberalen, die uns Juan vom M-19 erzählt.

Dezember 1985: in Tacueyo, der Gemeinde zu der auch Santo Domingo gehört, zieht die kleine Guerillabewegung „Ricardo Franco“ herum. Die in der Nähe wohnenden Indios hören tagelang Schüsse, obwohl gar keine Armeeinheiten in der Nähe sind. Was vor sich geht, scheint unglaublich: Die kaum 300 Kämpfer umfassende Guerillagruppe geht gegen vermeintliche Spitzel der Armee vor und foltert und erschießt über 170 ihrer eigenen Guerilleros. Angeführt wird die von der kommunistischen FARC abgesplitterte Truppe von Javier Delgado, einem in der stalinisten Schule geformten Abtrünningen der FARC. Nummer zwei an Bord ist Hernando Pizarro, ein Bruder von Carlos Pizarro. Gewalt in Kolumbien: die oft obskure Geschichte der Guerilla.

„Für den Frieden werden wir das Unmögliche tun“, verkündet ein Spruchband in Santo Domingo. Der M-19 scheint tatsächlich fest entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Eine Rolle spielt dabei sicherlich auch das Verhalten der Regierung des liberalen Präsidenten Barco, der bezeichnenderweise alle die Friedenspolitik betreffenden Ämter mit jungen, fortschrittlichen Politikern der 68er Generation besetzt hat. Erstmals ist Anfang April die Regierung entschieden gegen die rechtsradikalen Todeschwadronen vorgegangen: In Bogota wurden die Mörder des kommunistischen Parteisekretärs Teofilo Forrero verhaftet, in der Provinz Antioquia kam es zu Gefechten mit einer Todesschwadron, und im Osten des Landes wurde ein riesiges, von der Drogenmafia finanziertes Trainingslager für rechtsradikale Killer - inklusive Massengräber aufgedeckt.

In der gleichen Woche, am 7. April wurde aber auch Afranio Parra., Mitglied des obersten Kommandos der M-19, in Bogota ermordet. Stundenlang schien der Fortgang der Friedensverhandlungen gefährdet. Doch dann wurde - erstmals in den Zeiten des schmutzigen Krieges - schnell gehandelt, wurden die Mörder, drei Polizisten, verhaftet. Von Santo Domingo aus bekundete Carlos Pizarro weitere Bereitschaft zu Verhandlungen, und die Wiederaufnahme der Gefechte konnte gerade noch verhindert werden. Ungewiß ist, was nach weiteren Morden geschehen könnte. Der M-19 wird die Erfahrung der kommunistischen Union Patriotica, die bisher in ihrem dreijährigen Bestehen rund 750 ihrer Mitglieder verloren hat, ganz bestimmt nicht wiederholen. „Wir hoffen, daß sie uns nicht an den kritischen Punkt zwingen, an dem wir explodieren müssen“, meint Carlos Pizarro zum Drahtseilakt der Friedensverhandlungen.

Parteigründung

wird überlegt

Falls der M-19 tatsächlich wieder ins legale politische Leben findet, soll möglicherweise eine Bewegung oder eine Partei entstehen. So ganz sicher ist das noch nicht, und vorerst soll ein Dialog mit allen Vertretern der kolumbianischen Gesellschaftsschichten stattfinden. Entscheidungen werden beim M-19 auf dem Marsch gefällt. Und selbst die einzelnen Kämpfer wissen oft nicht auf die Frage zu antworten, was sie im Falle des Friedens tun würden. Manche können sich den Frieden gar nicht so richtig vorstellen. Andere denken an Lebensgefährten und Kinder, die sie irgendwann zurückgelassen haben. Rene, in Kampfmontur, mit Baskenmütze und Bart dem Che Guevara ähnlich, meint schließlich: „Ich möchte dann einfach ein gutes Leben führen.“