: Jugoslawien vor dem Bürgerkrieg?
Gespräch mit dem serbischen Historiker Miodrag Milic anläßlich der 600-Jahr-Feiern im Kosovo ■ I N T E R V I E W
Miodrag Milic (60) zählt zu den wenigen serbischen Intellektuellen, die den serbischen KP-Chef Slobodan Milosevic und dessen „Nationales Erneuerungsprogramm“ kritisieren. Er war als Initiator der „fliegenden Universitäten“ (ähnlich wie in Polen und der CSSR private Dissidententreffs) der staatlichen Repression ausgesetzt. Milic ist Mitbegründer der informellen „Bewegung für ein demokratisches Jugoslawien“.
taz: Der 600.Jahrestag der „Schlacht auf dem Amselfeld“ wurde am Mittwoch pompös gefeiert, nicht nur vom „einfachen Volk“, sondern auch von so bekannten Intellektuellen wie Milovan Djilas (der früher in Ungnade gefallene Weggefährte Titos), Dobrica Cosic oder Antonio Isakovic, den bekanntesten Romanciers Serbiens. Wie ist das zu erklären?
Miodrag Milic: In diesen schweren Zeiten versuchen sich die Menschen an geschichtliche Mythen zu klammern. Was soll ein Arbeiter sonst? Es gibt keine freie Gewerkschaft wie in Polen, jeder Ansatz für ein Mehrparteiensystem wie in Ungarn fehlt. Doch das erklärt nicht, weshalb die meisten Intellektuellen Serbiens den Verstand verlieren und dem „Führer“ Milosevic zujubeln. Das ist auch für mich ein Rätsel. Vielleicht gibt es dafür geschichtliche Gründe. Durch „negative Selektion“ säuberte der Kroate Tito die Partei und das kulturelle Leben in Belgrad. Als er 1980 starb, ließ er eine Führung von Idioten zurück, aus der einzig Milosevic deutlich hervorstach. Die nach Tito kamen, herrschten nur auf regionaler Ebene. Ihnen gelang es, jegliche Demokratisierung der Gesellschaft zu blockieren. Milosevic gelang dies am besten, er fand am schnellsten Sündenböcke, denen man alles unterschieben konnte. Die Intellektuellen fielen darauf rein.
Der slowenische Reformfrühling macht da doch eine Ausnahme?
Ich hege große Sympathien für die slowenischen Experimente, aber selbst Slowenien hinkt der Entwicklung Polens und Ungarns hinterher. Es gibt z.B. auch dort keine freien Zeitungen. 'Mladina‘ schreibt Interessantes und provoziert, aber wenn es politisch drauf ankommt, ist 'Mladina‘ eben doch nur ein Blatt des Regimes, ein Organ der slowenischen „Reformer“. Machen wir uns nichts vor, alles, was in Slowenien passiert, kontrolliert die Kommunistische Partei. Alles läuft letztlich darauf hinaus, den Standard der Arbeiter radikal zu drücken, um so das Wirtschaftschaos in den Griff zu bekommen. Es gibt in Slowenien Politiker, die dafür plädieren, daß der IWF und ausländisches Kapital die uneingeschränkte Oberhand in der Wirtschaft bekommen, das heißt, auch die politische Macht. Bei dieser Option bleibt auch dort kein Platz für ein demokratisches Gemeinwesen.
Welche Zukunft sehen Sie dann für Jugoslawien?
In den großen Zentren wie Skopje, Nis, Belgrad, Sarajevo leiden Menschen an Hunger. Um 70 Prozent fiel in den vergangenen zwölf Monaten der Fleischkonsum, um 23 Prozent der von Brot und Mehl, bei Gemüse und Obst stagnierte er. Restaurants und Kneipen müssen schließen. Die Menschen ziehen zu ihren Verwandten aufs Land, um ihre Lebensexistenz zu sichern. Von 23 Millionen Einwohnern, davon die Hälfte unter 32, gehen mittlerweile nur sieben Millionen einer Beschäftigung nach. Die Regierung druckt einfach Geld, soviel, wie sie gerade braucht, um den Polizei- und Militärapparat in Funktion zu halten. Offiziell liegt die Inflationsrate bei 770 Prozent, bis zum Jahresende soll sie 1.500 Prozent erreichen. Die Arbeitsproduktivität liegt unter der Rumäniens und Albaniens. Dazu kommt die drückende Last von 23 Milliarden Dollar Auslandsschulden. Sagt das nicht genug?
Aber wo soll denn nun die reale Gefahr für einen Bürgerkrieg liegen?
Jugoslawien ist ein Vielvölkerstaat. Es gibt kein Volk, das sich nicht durch andere Völker bedroht fühlt. Zum anderen fehlt jegliche Selbstorganisation der Arbeiter, der Intellektuellen, der Bauern. Jedes Volk versteckt sich hinter Mythen und Geschichtsklitterungen, das bietet unzweideutig den Boden für jede Manipulation. Und Milosevic macht es vor, wie sich ein Volk hinters Licht führen läßt. Dies ist eine Entwicklung, die auch für die Herrschenden der einzige Ausweg ist, nicht als Schuldige dazustehen. Sie unternehmen nichts, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden - und die Armee wartet schon auf diesen Tag.
Interview: Roland Hofwiler
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