Polens Wirtschaft trudelt

■ Solidarnosc-Vertreter befürchten Unruhen wegen der drastischen Preiserhöhungen durch die Regierung / Versorgungslage immer angespannter / Streiks in Bromberg und Breslau

Berlin (ap/dpa/taz) - Die Lage, so heißt es in Warschau, sei ernster und angespannter als vor den Auguststreiks I980. Inflation, Haushaltsdefizit und gravierende Produktionsausfälle lassen die polnische Wirtschaft auf einen Zusammenbruch zusteuern. „Wir glauben, daß die Regierung die Wirtschaft nicht mehr im Griff hat“, sagte Lech Walesa gestern. Das Solidarnosc-Präsidium kritisierte die von der Regierung vor einer Woche erhobenen Preiserhöhungen von Gebrauchs- und Luxusgütern um 70 Prozent. Sie seien kein Ersatz für echte Reformen, sondern führten nur zu Protest und Unruhe in der Bevölkerung.

Spekulationen über eine bevorstehende Währungsreform sind in Warschau immer häufiger zu hören. Sie führen allerdings zu einer immer schnelleren Flucht in konvertible Währungen. Die Inflationsrate werde laut 'Trybuna Ludu‘ auf eine dreistellige Zahl hochschnellen, hieß es gestern.

Die Versorgungslage wird währenddessen immer enger: Seit Wochen drängen sich die Menschen vor den immer leerer werdenden Lebensmittelgeschäften. Das einzige, was in den Metzgereien noch zu haben ist, sind leere Fleischerhaken und einige Fettprodukte. Die Bauern halten in Erwartung höherer Preise ihre Lieferungen zurück, vor allem seit nach einer Erhöhung der Preise für Landwirtschaftsmaschinen die staatlichen Ankaufpreise unter den Selbstkosten der Landwirte liegen.

Solidarnosc bemängelte gestern auch, daß die Regierung noch keinen Gesetzesantrag über die Bindung der Löhne an die Preise vorgelegt habe. Die Regierung hat jedoch angekündigt, daß dies einer der ersten Tagesordnungspunkte der kürzlich gewählten Nationalversammlung sein werde. Mit der Indexierung sollen 80 Prozent der inflationsbedingten Kaufkraftverluste über die Löhne wieder ausgeglichen werden. Wie lange der soziale Frieden noch zu halten sein wird, ist indes unklar. In Bromberg beendeten zwar gestern nachmittag die öffentlichen Verkehrsbetriebe ihren Streik. Sie sollen eine Erhöhung der Stundenlöhne von 300 (68 Pfennig) auf 550 Zloty (1,17 Mark) durchgesetzt haben. In Wroclaw (Breslau) stehen seit Dienstag die Beschäftigten der Müllabfuhr immer noch im Streik.

kir/kb