Anklage gegen „Lotta-continua„-Chef

Wegen des Mordes an Kommissar Calabresi 1972 sollen Ex-Studentenführer jetzt vor Gericht  ■  Aus Rom Werner Raith

Wechselbäder bei der Aufarbeitung der italienischen Studenten- und Arbeiterkämpfe der siebziger Jahre: Während in Rom der Staatsanwalt für alle Rotbrigadisten Freisprüche von der Anklage des „bewaffneten Aufruhrs“ und des „Umsturzversuches“ fordert, haben Mailänder Untersuchungsrichter in einem auch vielen ihrer Kollegen unverständlichen Puzzle Elementchen für Elementchen zusammengetragen, um den einstigen Führer der Studentengruppe „Lotta continua“, Adriano Sofri, und seinen Ex-Kollegen Giorgio Pietrostefani, als „Auftraggeber“ für den Mord an Krimialkommissar Luigi Calabresi vor Gericht zu bringen. Der Mord geschah 1972 durch mehrere Schüsse in Mailand. Zum Anschlag bekannte sich erst voriges Jahr ein ehemaliger Gefolgsmann Sofris, Leonardo Marino, der auch ausgesagt hat, Sofri und einige seiner Führungskollegen hätten ihn dazu angestiftet.

Calabresi galt seinerzeit als einer der meistgehaßten Männer Italiens: Der smarte Draufgänger soll zumindest „mitgeholfen“, wenn nicht den entscheidenden Schubs gegeben haben, der den Anarchisten Giuseppe Pinelli am 15.Dezmeber 1969 kurz nach seiner Verhaftung aus dem fünften Stock des Polizeipräsidiums befördert hat; offizielle Version: Selbstmord. Pinelli war von Calabresi des Attentats auf die Landwirtschaftsbank Mailand (17 Tote) bezichtigt worden, das in Wirklichkeit Rechtsterroristen ausgeführt hatten. Für die Ermittlungsrichter Ferdinando Pomarici und Antonio Lombardi hat die Führungsspitze der Mailäner „Lotta continua“, geführt von Sofri, daher die Exekution des Polizisten beschlossen.

Zwar war Sofri, mittlerweile zu einem der angesehensten Journalisten Italiens avanciert, vergangenes Jahr unter spektakulären Umständen verhaftet und bald darauf wieder freigelassen worden; die nun formelle Anklageerhebung gegen Sofri und einige seiner Ex-Kollegen kam trotz alledem überraschend: Außer der Aussage des auch nach Ermittlerangaben oft in starke Verwirrung geratenen Marino hat die Staatsanwaltschaft nämlich kaum etwas vorzuweisen als das Motiv. Doch „das haben damals Tausende von Italienern in ihrem Herzen getragen“, wie der ebenfalls aus der „Lotta-continua„-Spitze kommende grüne Senator Marco Boato sagte, der sich daher zusammen mit drei Dutzend Ex -Kombattenten nach der Verhaftung Sofris 1988 spontan als „mindestens ebenso Auftraggeber im moralischen Sinne wie Sofri“ selbst anzeigte. Doch die Verfahren gegen Boato und andere Selbstbezichtiger wurden eingestellt. Auch großzügig, großzügig - das gegen Mauro Rostagno, der voriges Jahr in Trapani von der Mafia umgebracht wurde.