Vom Schlagbaum zum SIS-Terminal

Im Rahmen des Schengen-Abkommens basteln Polizei-Experten am ersten grenzübergreifenden Fahndungsdatennetz Europas: SIS / Heute steht das Datenprojekt auf der Tagesordnung der Pariser Ministerkonferenz / Verzögerungen sind jedoch zu erwarten  ■  Von Thomas Scheuer

Etwa 20 Monate nach dem Startschuß soll das System einsatzbereit sein, erläuterten niederländische Regierungsvertreter am Mittwoch dieser Woche ihren heimischen Abgeordneten in Den Haag - und meldeten sogleich Zweifel an, ob der Startschuß tatsächlich wie geplant am heutigen Freitag in Paris fallen wird. Das Projekt, das die Neugierde der parlamentarischen Runde geweckt hatte, wird in polizeilichen Fachkreisen unter dem Kürzel SIS gehandelt. Die Buchstaben stehen für das Schengen-Informations-System: Das erste grenzübergreifende polizeiliche Datenverbundnetz Europas. Zwar wird sich wegen ungelöster Differenzen in anderen Bereichen, etwa der Steuerangleichung, das ursprünglich für Januar 1990 vorgesehene Inkrafttreten des Schengen-Abkommens, in dessen Rahmen das SIS-Fahndungssystem installiert werden soll, noch für eine ganze Weile verzögern. Doch illustrieren interne SIS-Arbeitspapiere und

-protokolle, die der taz vorliegen, wie sich Polizei- und Bürokratenhirne das grenzenlose Europa der Zukunft vorstellen: An die Stelle des kofferraumdurchwühlenden Zöllners am Schlagbaum tritt Big Brother. Der Schlagbaum wird durch den Terminal ersetzt.

In dem Luxemburger Grenzörtchen Schengen, dem das Abkommen seinen Namen verdankt, einigten sich 1985 Regierungsvertreter der fünf EG-Kernstaaten Belgien, Bundesrepublik, Frankreich, Luxemburg und der Niederlande auf den Abbau ihrer Binnengrenzen als Voraussetzung des gegenseitigen freien Waren- und Personenverkehrs. Quasi ein vorauseilender Pilot-Binnenmarkt innerhalb der EG. Neben den unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen für Schnittblumen und Frischgemüse plagten die Planer von Anfang an die durch den Wegfall der traditionellen Grenzkontrollen befürchteten „Sicherheitsdefizite“: Drogenschmuggler oder Terroristen, so die Schreckvision, könnten sich dann ungehindert im gemeinsamen Grenzraum tummeln. Einen beträchtlichen Teil ihres Gehirnschmalzes investierten diverse Expertengremien daher in entsprechende „Kompensationsmaßnahmen“.

Zu diesen gehört das Projekt SIS, das in einem Zusatzabkommen (Entwurf) zum eigentlichen Schengen-Vertrag untergebracht ist. Es wäre das erste supranationale elektronische Fahndungsnetz Europas, mithin ein Prototyp für das vielzitierte Projekt „Europol“. Ihr Organisationskonzept für SIS haben die Polizei- und Zollexperten der „Arbeitsgruppe I - Polizei und Sicherheit“ im November letzten Jahres in Brüssel in einem internen „Synthesedokument“ (Aktenzeichen: SCH/I (88) 7; 2., überarbeitete Fassung) zusammengefaßt, das der taz in der französischen Fassung vorliegt. Zwar sind nahezu neben jedem Abschnitt noch Vorbehalte einzelner oder gar aller Länder vermerkt. Dennoch lassen sich aus diesem und anderen Papieren (z.B. denen der „Arbeitsgruppe II Personenverkehr“) sowie weiteren Details, die niederländische Abgeordnete auf Anfrage von ihrer Regierung erhielten, die Umrisse des geplanten Überwachungsapparates rekonstruieren. Danach soll SIS aus einem Zentralrechner (Kürzel: ZSIS) bestehen, um dessen Standort in Wiesbaden (beim BKA), Paris oder Den Haag die nationalen Unterhändler noch feilschen. Mit diesem verbunden sollen die Nationalen Datenstationen (Kürzel: NSIS) sein. Für die Ersteinrichtung der ZSIS werden die Kosten auf etwa 3,75 Millionen Mark veranschlagt; die jährlichen Betriebskosten auf rund 1,5 Millionen. (Für die NSIS-Ableger gibt es nur die niederländischen Schätzungen über rund 3,1 Millionen Mark für Installierung und 0,3 Millionen Betriebskosten pro Jahr.) Für ein multinationales Datenverbundsystem sind das mickrige Beträge. Die Experten meinen nämlich: „Nach Möglichkeit soll bestehende Infrastruktur benutzt werden.“ Es soll also die Computer-Hardware der nationalen Polizeien vernetzt werden; die genannten Kosten dürften hauptsächlich für die notwendige Software für die Austauschprogramme und Personal anfallen. (So soll das niederländische NSIS in das bestehende polizeiliche Datenaustauschnetz PODACS integriert werden.) Die größten Brocken der Gemeinschaftskosten haben Bonn (etwa 47 Prozent) und Paris (etwa 38 Prozent) übernommen. Die übrigen 15 Prozent dürfen sich die drei Kleinen teilen.

In der Anlaufphase soll SIS mit den Daten von rund 800.000 Menschen gefüttert werden; die Speicherkapazität reicht aber locker für fast 5,5 Millionen. 40 Prozent der von den NSIS -Stationen erfaßten Personendaten, so wird geschätzt, werden sich jeweils auf „eigene“ Bürger beziehen, 60 Prozent auf Bürger anderer EG-Länder oder Drittländer. Mit Nachschub versorgt wird SIS von den nationalen Polizeidateien und sämtlichen Kontrollorganen „an den Außengrenzen und im Inland“, z.B. „mobilen Polizeieinheiten“, die den Wegfall der stationären Grenzposten kompensieren sollen. Zugriff auf die SIS-Sammlung haben „ausschließlich Polizeibehörden, Grenzüberwachung, Zoll-, Visum- und Ausländerrechtsbehörden“ der Schengen-Vertragsstaaten. Daß in denen das Datenschutzrecht sehr unterschiedlich entwickelt ist, stößt selbst manchen beteiligten Experten sauer auf. So gewährt SIS beispielsweise der bekanntermaßen von Rechtsradikalen durchsetzten Sicherheitspolizei Belgiens, eines Landes also, das bisher überhaupt kein Datenschutzrecht kennt, den Zugriff auf in der BRD erhobene Daten, beispielsweise von politisch aufgefallenen Exilpolitikern. So fordern denn Kritiker dieser Eurodatei auch, die Harmonisierungsbeamten mögen sich doch, bitte schön, erst einmal an einem EG -einheitlichen Datenschutzrecht versuchen, ehe die große Sammelei ausbricht. „Auffällig“ ist übrigens eines der vagen Kriterien, nach denen Personen erfaßt werden sollen. Wie und was amtlich gesammelt und ausgetauscht werden darf, erläutert Abschnitt 2.8 des genannten „Synthesedokuments“: „Personenbeschreibungen“ im Rahmen der Strafverfolgung oder im Zusammenhang mit der „Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit“. Gewonnen werden sie durch „gezielte“ oder „unauffällige Kontrolle“, also verdeckte Observation. Dabei dürfen auch Daten über Reiseziel, Begleitpersonen, Fahrzeug und die „Umstände des Antreffens“ der Zielperson eingetippt werden. Eine wie auch immer geartete Kontrollinstanz ist nicht vorgesehen. Auch Interpol hat bereits Interesse an einer Standleitung angemeldet.

Nicht über SIS soll der Datenaustausch über Asylbewerber, der im asylpolitischen Teil des Schengen-Abkommens geregelt ist, abgewickelt werden. Solche Daten haben über die herkömmlichen bilateralen Wege von Staat zu Staat zu wandern. Vorerst jedenfalls.