Bremens kaltes Herz für Frankreichs Emigranten

Asylpolitik zur Zeit der Französischen Revolution / „Monsieur Foucault hat ein schlimmes Bein„/ 1. Folge  ■  Von Günter Beyer

Im Mai des Jahres 1793 kehrte die bremische Bark „Expedition“ unter dem Kommando von Kapitän Gerd Havighorst von einer Frankreich-Reise zurück. An Bord waren 28 verdächtige Passagiere, die sofort Anlaß gaben für Unruhe in der Stadt. Kapitän Havighorst hatte die 28 Männer im bretonischen Hafen Morlaix an Bord genommen. Aus den Reisedokumenten ging hervor, daß Havighorst sich auf so etwas wie einen Abschiebungsvertrag eingelassen hatte: Gegen Bezahlung hatte sich der Käpten verpflichtet, 28 „widerspenstige Priester“ außer Landes zu schaffen. Nach der Revolution mußten nämlich Frankreichs Priester den Eid auf die neue Verfassung leisten. Wer sich weigerte, bekam Berufsverbot. Wer sich konterrevolutionärer Bestrebungen verdächtig machte, wurde deportiert.

Wohin mit den

Priestern?

Die 28 eidverweigernden Priester gehörten zu den ersten Franzosen, die in der Folge der französischen Revolution in Bremen auftauchten. Das örtliche Revolutionskomitee von Morlaix hatte Kapitän Havighorst eine Namensliste mitgegeben. Daraus ging hervor, daß einige der Gottesmänner schon sieben Monate in Haft waren, bevor man sie an Bord der „Expedition“ brachte. Andere schmachteten erst wenige Wochen im Verließ des bretonischen Schlosses Torreau. Zwar hatten viele Bremer BürgerInnen Mitleid mit den abgerissenen, mittel-und heimatlosen Gottesleuten. Aber der Rat versuchte, die ungebetenen Besucher so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Denn erstens gab es im protestantischen Bremen für katholische Priester so recht keine Verwendungsmöglichkeit. Und zweitens vermied der Senat alles, was in Frankreich als Solidarität mit den Gegnern der Revolution ausgelegt werden könnte. In Frankreich nämlich hatte sich die Gangart der Revolution merklich verschärft. Ludwig der Sechzehnte war im Januar als ordinärer „Bürger Capet“ auf die Guillotine geschickt worden. Radikale Kräfte in Paris steuerten einen härteren Kurs gegen die Kirche. Die ersten „Entchristlichungskampagnen“ wurden geplant, der liebe Gott der Bibel abgesetzt und durch einen Vernunft-Kult zu Ehren des „höchsten Wesens“ ersetzt.

Am 27. Mai 1793 tauchte die Summe von 103 Talern und 67 Groten in den bremischen Rechnungsbüchern auf mit dem Vermerk „Wegzehrung und Transportkosten für 28 französische Geistliche“. Das waren pro Nase immerhin fast 4 Taler. So viel hat Bremen nie wieder für einen französischen Emigranten lockergemacht.

Versehen mit diesem Reisegeld, wurden die Patres auf den Weg ins Katholische geschickt: nach Hildesheim, Münster oder Paderborn. Der kaiserliche Resident in Bremen, Vrintz zu Freuenfeldt, stellte dem Priester Le Jeune aus Plogoulm „hieher gewaltsam transportiert von Morlaix aus Bretagne“ -sogar einen Paß aus „zum weitern Fortkommen nach Westphalen oder wo man selben aufnimmt“. Damit waren die Bremer den französischen Problem-Export wieder los. Die Frage an den Rat der Stadt war damit aber gestellt: Welche Haltung würde die Stadt gegenüber den Gegnern der französichen Revolution einnehmen?

Im Juni 1794 siegten die franzöischen Revolutionstruppen im belgischen Fleurus über Österreich. Belgien war bis dahin als

sogenannte „Österreichische Niederlande“ Teil des habsburgischen Kaiserreichs. Die Franzosen ruhten sich nicht lange auf diesen Lorbeeren aus. In Holland hoben sie im Mai 1795 einen Satellitenstaat namens „Batavische Republik“ aus der Taufe. Damit war die französische Militärmaschine auf gut einhundert Kilometer an Bremen herangerückt.

Der gestrenge Ratssyndicus Christian Hermann Schöne. Er entwarf den 16-Fragen-Katalog für französische EmigrantInnen und verkündete: „Bremen ist kein Einwanderungsland“.

Die Franzosen entmachteten in den von ihnen kontrollierten Gebieten die alten Eliten und unterstützten bürgerliche Emanzipationsbewegungen. In der Folge brachen aus Brabant und Holland Tausende von Flüchtlingen auf. Ihr Ziel hieß Norddeutschland. Waren in Bremen bis zur Jahresmitte 1794 nur vereinzelt Emigranten aufgetaucht, so stieg die Zahl der Asylsuchenden innerhalb eines Jahres auf über 1000 Personen an. Einzelreisende und komplette Großfamilien mit einem Dutzend Bediensteten, Bettler und Millionäre - sie alle suchten Zuflucht in der Freien Reichsstadt Bremen.

In seinen Lebenserinnerungen schreibt der Bremer Kaufmann Franz Böving über jene turbulenten Tage:

„Auf'm Kontor gab es die beste Gelegenheit, sich in der holländischen sowohl als französischen Sprache zu üben durch Lesen, Schreiben und auch sprechen in beiden. Es waren nämlich derzeit viele Emigrantenfamilien aus Brabandt in Bremen, davon die meisten Connexiones an unserem Kontor hatten. Sie kamen häufig, weil sie ohne Beschäftigung waren, mit der störenden Frage: 'Quelque chose de nouveau? Iets nieuws, Myn Heer?'“

Diese „Connexiones“ waren meist als Folge langjähriger Geschäftskontakte entstanden. Die Adressen Bremer Weinhändler etwa, die den guten Bordeaux von der Garonne einführten, wurden in Emigrantenkreisen hoch geschätzt. Die Bremer Firma „Thorspecken & Binaud“ beispielsweise vermittelte Unterkünfte für geflohene Edelleute. Der Compagnon Binaud stammte aus Bordeaux und ging später als Konsul dahin zurück.

Wer als Emigrant nach Bremen kam, war sofort Gegenstand penibler polizeilicher Überwachung. Nach einem von Ratssyndicus Christian Hermann Schöne festgelegten 16-Punkte -Fragenkatalog wurden die Aufenthaltssuchenden auf Herz und Nieren untersucht. „Prüfung des Einzelfalls“ heißt das heute. Die Ausfrager wollten darin unter anderem vom Flüchtling wissen, „welche Gründe ihn bewogen, seinen bisherigen Wohnort zu verlassen“ und „was ihn bewogen, gerade hierher zu kommen?“

Besonderes Gewicht für die Entscheidung der „Geheimen Ratskommission“ hatten die Fluchtmotive: Wer mit der Waffe in der Hand den französischen Revolutionstruppen Widerstand

geleistet hatte, wurde sofort weitergeschickt. Andere, die aus Angst vor dem Krieg oder einer Enteignung die Heimat verlassen hatten, wurden kurzfristig geduldet. Diese Duldung konnte jederzeit widerrufen werden. Die meisten Flüchtlinge durften nur wenige Tage in der Stadt bleiben. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung mußten sie selbst bestreiten.

Die polizeiliche Überwachung der geduldeten Emigranten war ab August 1794 mit bürokratischer Genauigkeit geregelt. Sie lag in den Händen des Ratswachmeisters d‘ Oleire. Der Name weist ihn selber als Nachfahre hugenottischer Einwanderer aus. Täglich stellte d‘ Oleire seine Rapporte zusammen: Eine dicke Mappe, die noch heute im Bremer Staatsarchiv liegt.

Wachtmeister

rapportierte

Durch alle Berichte der Framdenpolizei ziehen sich die Klagen der Emigranten über ihren schlechten Gesundheitszustand. Man muß es Wachmeister d‘ Oleire hoch anrechnen, daß er diese Beschwerden ernst nahm, sie knapp und nüchtern niederschrieb und weiterleitete. Bisweilen spricht aus seinen Zeilen eine leise Sympathie für seine Klientel. Der Argwohn unserer heutigen Ausländerpolizei war d‘ Oleire fremd. Er sah nicht in jedem Asylbewerber den Scheinayslanten. Der von Abschiebung bedrohte Kranke war nicht bloß Simulant. Über einen brabantischen Flüchtling notierte d‘ Oleire: „Monsieur de Galz liegt leider am Podagra (Fußgelenk) krank, so daß er in zwei Tagen nicht fort von der Stelle kommen könne...„. Über einen weiteren Flüchtling hieß es: „Monsieur Faucault hatte ein schimmes Bein, weswegen er das Bette hüten mußte, könnte also bey dieser schlechten Witterung nicht weiterkommen.“ Bremens Emigrantenunterkünfte - so stellt sich die Situation anhand der Notizen d‘ Oleires dar - sind wahre Siechenhäuser. Die Flüchtlinge lei

den an Wassersucht, Erkältungskrankheiten, Heimweh und Geldmangel. Der Duc de Perre beispielsweise „erwartet einen Wechsel von seiner Heimath; sobald er ihn hat, reiset er ab“. Die graue Eminenz hinter allen Asylverfahren war d‘ Oleires Vorgesetzter, Syndicus Christian Hermann Schoene. In seiner Hand lag das Schicksal der Emigranten. Er bekam viel Post: ungelenkes Gekrakel in kaum leserlicher Schrift, zarte Briefchen, von Frauenhand auf edles Büttenpapier in akkuratestem Französisch kalligrafiert. Auf manchen Kuverts haften die Reste eines Siegel, das Wappenschild bourbonische Lilien - verrät die allerfeinste Herkunft und Noblesse. Die Briefsteller schmeicheln dem Syndicus, beschwören dessen „liebenswürdige Art“, versichern den Chef der Ausländerpolizei der „höchsten Dankbarkeit“ und verabschieden sich als „untertänigste und allergehorsamste Diener“.

Büttenpapier

half nichts

Aber so beredt die Emigranten dem Syndicus die Honneurs machten, so kräftig sie Süßholz raspelten - Schoene blieb beinhart. Sein Credo: Bremen ist kein Einwanderungsland. In mehreren Berichten vor der Ratsversammlung über den „delicaten Gegenstand“ der französischen Emigration klopft Schoene den Kurs bremischer Ausländerpolitik fest. Er ist so etwas wie der behördliche Vater bremischer Ausländerfeindlichkeit.

Schoene weiß sehr wohl um die „Strenge, mit der die armen Emigrirten aller Orten behandelt“ werden. Selbst Frankreichs Erbfeind Großritannien, führt Schoene zum Triumpf aus, „verweigert ganz neuerdings diesen Flüchtlingen sogar das Anlanden an Albions Küsten“, und in der Konsequenz würden die Flüchtlinge „bis zum Nordpol und zu den entlegensten unter Catharinens Scepter stehenden Provinzen verjagt“.

Aber was der Zarin recht,

konnte Bremen nur billig sein. Schoene hatte in anderen deutschen Staaten recherchiert, wie man dort mit Asylsuchenden umging. Bremens restriktive Asylpolitik vollzog das nach, was anderswo mit größter Selbstverständlichkeit praktiziert wurde: „Man ahmt nur das Beispiel größerer Reichsstände nach.“ Hier also liegt die historische Wurzel der Furcht unserer Regenten vor bremischen Alleingängen.

Schoene hatte freilich einige populistische Argumente parat, denen zufolge ausländerfreundliche Regelungen in Bremen nicht in Frage kämen. Es stehe nämlich fest, „daß bey einer zunehmenden Anzahl von Fremden die Zahl der Consumenten sich erhöht und dadurch zu besorgen steht, daß die jedem unumgänglich nothwendigen Lebensbedürfnisse ungemein vertheuert werden.“ Der „begüterte Fremde“ werde sich auf Kosten der ärmeren StadtbewohnerInnen versorgen. Es gehe nicht an, „wenn man solchergestalt Auswärtige auf Unkosten der Bewohner Bremens begünstigen wollte“. Die kleine Zahl wohlhabender Flüchtlinge - namentlich aus Brabant - mußte herhalten, um dem Gros der hungernden mittellosen Flüchtlinge die Stadttore vor der Nase zuzuknallen.

Bremens Knauserigkeit wirkt um so schäbiger, weil es der Stadt wirtschaftlich ausgezeichnet ging. Bremens Handel war in den 90 Jahren enorm expandiert - nicht zuletzt wegender Umsätze mit der jungen französischen Republik.

Schwindlerin

leihmte Deputierte

Bei aller Knauserigkeit ging Schoenes Ausländer-Deputation einer gerissenen Schwindlerin auf dem Leim. Die Frau behauptete, die Witwe des berühmten Pariser Malers Jacques Louis David zu sein. Ihr Gatte, begeisterter Jakobiner, Mitglied der französischen Nationalversammlung und Schöpfer so berühmter Bilder wie der „Tod des Marat“, sei inzwischen guillotiniert worden. Man

glaubte ihr und zahlte der angeblichen Witwe David im Mai 1795 2 Taler 35 Groten. Tatsächlich war Monsieur David aber keinesfalls einen Kopf kürzer gemacht worden, sondern hatte den seinen stets oben behalten. Er malte immer neue meisterhafte Porträts, überstand alle politischen Säuberungen der späten Revolutionsjahre und wurde schließlich Hofmaler bei Napoleon Bonaparte. Er starb im gesegneten Alter von 77 Jahren.

Bremens kaltes Herz für die Emigranten hatte freilich politische, wirtschaftliche und militärische Ursachen. Politisch hatte sich Bremen stark an das neue Regime angelehnt, um Handelsvorteile zu erbuhlen. Wirtschaftlich war Bremen abhängig vom Frankreich-Handel. Und schließlich schnürte die militärische Lage den Spielraum bremischer Politik ein. Die Soldaten der Trikolore standen in Holland. Im Januar 1795 hatten sie Amsterdam eingenommen. Syndicus Schoene zeichnete ein Szenario möglicher militärischen Risiken für die Stadt: „Bey den außerordentlichen Fortschritten der Franzosen muß die Klugheit den Fall sich denken, daß selbige bey ihrer bisher geäußerten geringen Neigung zum Frieden bey fernerem Glück ihre Eroberungen vom Rhein bis zur Weser auszudehnen suchen.“ Damit würde Bremen zur Zielscheibe französischer Expansionsgelüste, denn die Revolutionstruppen könnten Bremen „als zur Anlegung von Magazinen und Hospitälern äußerst bequem“ finden. Würde Bremen gegenüber den Flüchtlingen Milde zeigen, könnten das die Franzosen „dieser guten Stadt zum Verbrechen anrechnen“. Auf jeden Fall hätten die vorrückenden Revolutionäre einen billigen „Vorwand zur Auferlegung von Kontributionen“.

In der nächsten Woche: Ein anrüchiger Hecht im Nassen Dreieck. Der Flüchtling Graf von Artois will aus Bremen einen Sammelpunkt der der Gegenrevolution machen.