ANTIGONE UNTER DER S-BAHN

■ Das Experiment Phönix Theaterproduktion spielt „Die Insel“ von Athol Fugard

Ein politisches Theaterstück, weder als Lehrstück mit Zeigefinger noch postmodern, beliebig mal eben irgendwie als etwas Bedeutendes über die Bühne spielend zu inszenieren, daß es einen vom Haarschopf bis zu den Zehenspitzen packt und das Gehirn bis in die hinterste Ecke offenhält, das ist schon ein ganz besonderes Kunststück.

Athol Fugards schwerer Brocken handelt von zwei zu lebenslänglich verurteilten politischen Gefangenen, die gemeinsam in einer Zelle um ein menschenwürdiges Dasein kämpfen. Eine Aufführung voller - noch so ehrlicher Emotionalität hätte hierzulande gerade in der Zeit nach dem Hungerstreik und dem Prozeß gegen Ingrid Strobl das Stück des südafrikanischen Dramatikers ganz schnell über das Ziel hinaus in den Sand setzen können. Unter der Regie Rainer Huffs jedoch agieren die Schauspieler des Experiment Phönix trocken und ohne jedes Pathos. Ihre Dialoge erlauben sogar kurzes Lachen, einmal hier, einmal da, indem sich die ganze, durch das sachliche Spiel Mathias Grundigs und Rainer Winkelvoss‘ hervorgerufene Beklemmung auch einmal entladen kann.

Damit sie mit ihrer Knasterfahrung und mit dem Verlust des Kontakts zu den alten Freunden zurecht kommen und in dem zermürbend eintönigen Gefängnisalltag nicht vergessen, warum sie einstmals verurteilt wurden, überredet der intellektuell ambitionierte John den eher etwas grobschlächtigen Winston, die „Antigone“ von Sophokles einzustudieren, die antike Tragödie, in der der Tyrann Kreon Antigone lebendig einmauern läßt, weil sie ihren Bruder, den Staatsfeind Polyneikes, entgegen Kreons Verbot beerdigte.

Mit Mühe klauben John und Winston die nötigsten Requisiten aus der Gefängniswerkstatt zusammen. Doch selbstverständlich können sie nicht ungestört proben. Jedes Mal, wenn die S -Bahn über das Kroll-Theater im S-Bahnbogen donnert, spult ein Tonband ab, und Schlüsselklirren und Stiefelschritte imaginärer Wächter dröhnen an der Zelle der beiden Männer vorbei. Abrupt unterbrechen sie dann ihr Spiel und fliehen in den toten Winkel neben dem Spion in der Zellentür. Experiment Phönix macht aus der Not eine Tugend: Per Fahrplan werden die Zuschauer alle zehn Minuten daran erinnert, daß sie in einem Theater sitzen. Selbstvergessenes Hineinfallen in einen Film ist nicht möglich.

In den zwischen den Zügen verbleibenden Minuten jedoch greift das Stück ganz nach den Zuschauern, nicht zuletzt mit Hilfe des surrealen Bühnenbilds Gabriele Menzefrickes und dem Licht Luigi Segattas. Überdimensionale Glassplitter umgeben die grau in grau sterile Zelle. Das Licht fällt trübe, sachlich, lullt ein, ist eigentlich gar nicht vorhanden. Nur wenn plötzlich die Wärter die Tür aufschließen, ergießt sich Flutlicht bis in den Zuschauerraum, daß es in den Augen schmerzt.

Die Insel entstand 1972 aus der Zusammenarbeit zweier schwarzer mit dem weißen Schriftsteller Fugard. Im Kroll -Theater wird das Stück von Weißen gespielt und aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gelöst. Hinweise auf die Situation in einem bestimmten Land fehlen. Es geht um die Situation politischer Gefangener überall und um das vorprogrammierte Verhältnis des Staates zu seinen Gefangenen. John wird vorzeitig entlassen. In dem dieser Nachricht folgenden kurzen, eruptiven Monolog des sonst eher wortkargen Winston bricht alles hervor, was Knast am Menschen anrichtet. Als John Winston nach seiner Entlassung besucht, sprechen sie zum ersten Mal eine zusammenhängende Textstelle aus der „Antigone“ - durchs Telefon an der Besuchertrennscheibe. Erst jetzt kann sich Winston in einem neuen Selbstbewußtsein dem Staat gegenüber wie Antigone vor Kreon schuldig bekennen, schuldig, die Gesetze, die Richter Kreon erlassen hat, gebrochen zu haben.

Claudia Wahjudi

„Die Insel“ von Athol Fugard im Kroll-Theater, bis zum 16.Juli, täglich um 21 Uhr