Der lange Jammer ist vorbei

■ Das Märkische Viertel ist heute ein bieder-bürgerlicher Wohnbezirk

Vögel zwitschern, ein lauer Wind streicht durch die Bäume und Hecken, schwerer süßer Blütenduft liegt in der Luft (50 Punkte für den Reim!). Zwei blondgelockte, zwölfjährige Mädchen (Fatima, Güney?), beide im gleichen kurzen, hellblauen Sportdreß gekleidet, spielen Tennis gegen eine Häuserwand. Kein Straßenlärm stört die besinnliche Ruhe. Eine traumhafte Idylle - ragten da nicht 16geschossige, schmutziggraue Betongebirge zu beiden Seiten in den strahlend blauen Sommerhimmel. „Früher hab‘ ich mich gar nicht getraut zu sagen, daß ich im Märkischen Viertel wohne“, gesteht eine Mittsechzigerin. Sie wohnt nun schon seit 20 Jahren hier. Just zu jener Zeit geriet die Neubausiedlung im Norden Berlin ins Kreuzfeuer der Kritik, lange noch, bevor die letzten der insgesamt 17.000 Sozialwohnungen fertiggestellt waren. Das Märkische Viertel stand als Synonym für menschenverachtende Fehlplanung. Angeprangert wurden neben zu hohen Mieten für die Sozialwohnungen vor allem mangelnde ärztliche Versorgung und fehlende Kita-Plätze. Die Bewohner hielten nicht still, sie machten mobil. Anfang der Siebziger schossen auch hier die Bürgerinitiativen wie Pilze aus dem Boden (da! schon wieder einer!). Mit weißen Laken vor den Fenstern protestierten sie erfolgreich gegen die jüngsten Mieterhöhungen. Die Elterninis kämpften um mehr Kitas und für den Erhalt des ersten Abenteuerspielplatzes. Andere wiederum setzten durch, daß die Müllkippe am nordöstlichsten Rand der Siedlung in einen Freizeitpark umgestaltet wurde. Die Jugendlichen hingegen fanden eine eigene Form des Protests. Schnell machten die Horrormeldungen von Rockerbanden und Vandalismus die Runde. „Es war schon schlimm damals“, erinnert sich heute der 27jährige Ralf. „Für die Jugendlichen gab‘ et ja nüscht. Der Abenteuerspielplatz machte um 19 Uhr dicht. Aber der war für die Größeren eh‘ nicht so interessant. Die gingen ins 'Shock‘, der einzigen Disko im Einkaufszentrum, dort waren Schlägereien an der Tagesordnung.“

Die entstandenen Urteile und Vorurteile (hee? bei der Idylle?) wurden endgültig festgeklopft. Das machte sich vor allem Anfang der achtziger Jahre bemerkbar. Die Flucht aus den Trabantenstädten setzte ein. Zunehmender Leerstand drängte die GeSoBau, Eigentümerin von 15.177 Wohnungen im Märkischen Viertel, zum Handeln. „Wohnumfeldverbesserungsmaßnehmen“ hieß das Zauberwort.

Begonnen wurde mit den Sanierungsmaßnahmen am „Langen Jammer“ (ich sympathisiere), dem über 700 Meter langen Betontrakt des französischen Architekten Rene Gages. Die Schäden an der Bausubstanz wurden ausgebessert, die Fassade erhielt einen neuen Anstrich, die schmalen Eingänge wurden mittels Vorbauten zu großzügigen Hallen erweitert. Die Aufzüge sind mit geriffeltem Alublech ausgekleidet, um wilden Graffities vorzubeugen. Elke Spohn, Pressesprecherin der GeSoBau, befürchtet nicht, daß die Verschönerungen bald wieder einem neuen „Vandalismus“ zum Opfer fallen. „Die Leute wissen Qualität zu schätzen“, verkündet sie selbstsicher (wir auch, ehh). Längst schon haben die BewohnerInnen keine Lust mehr, sich zu rechtfertigen, warum sie in der Trabantenstadt leben. „Es ist wunderschön hier“, schwärmt Edith Blaszyk. „Die Hausgemeinschaft hier ist ganz phantastisch, einer hilft dem anderen.“ Auch mit der türkischen Familie, die auf der selben Etage wohnt, kommen sie gut aus. „Die bedanken sich immer mit Keksen und Gebäck, wenn wer ihnen geholfen ham“, erzählt Frau Blaszyk. Der Mord an den Türken ist schlimm, aber in Kreuzberg muß es doch schlimmer sein.

Kulturell ist noch immer nix geboten. Das einzige Kulturforum, das Fontane-Haus, mußte Anfang des Jahres wegen Asbest schließen. Nach Ladenschluß werden die Bürgersteige hochgeklappt - aber das scheint niemanden zu stören.

Das Märkische Viertel leidet nicht mehr unter einem schlechten Ruf. Unterdessen macht sich ein neues Vorurteil in den Medien breit: „Wo sich der Biedermann zeigt, ist der Brandstifter nicht weit.“

Beate Kirchenmaier