Die Rote Armee in Estland

■ Wer lügt über Estlands Geschichte? - Eine Kontroverse in estischen Zeitschriften

Am 7.März beschuldigte die 'Volksstimme‘, Zeitung der KP Estland, den Historiker Mart Laar, „historische Lügen“ zu verbreiten und drohte ihm mit gerichtlicher Verfolgung.

Laar hatte im November 1988 einen Artikel in der estischen Kulturzeitung 'Vikerkaar‘ ('Regenbogen‘) veröffentlicht, an dem die 'Volksstimme‘ Anstoß nahm. Der von ihm gewählte Titel, „Zeit der Schrecken“, war inspiriert durch die Berichte, die an die estische „Erbe-Gesellschaft“ geschickt wurden; dieser Verband versucht, persönliche Erinnerungen an Nazi- und sowjetische Besatzungszeit zu sammeln, soweit es noch lebende Augenzeugen gibt. Seit der Ankündigung dieses Projekts im Februar 1988 haben die Organisation und die sechs mit Tonbändern durch das Land reisenden Gruppen insgesamt 90 Stunden Tonbandaufnahmen und 8.000 Seiten geschriebener Erinnerungen erhalten. Überwältigend war jedoch weniger die Menge als der Inhalt dieser Erinnerungen.

Laar hatte geschrieben: „Wir haben alle die Filme gesehen über das Abbrennen ganzer Dörfer in Belorußland, z.B. Klimovs Film Komm und sieh; wie viele jedoch haben davon gehört, daß in Estland drei ähnliche Dörfer mit ihren Bewohnern vernichtet wurden - aber nicht von den Deutschen, sondern von der Roten Armee bzw. ihren Vernichtunsbataillonen auf dem Rückzug vor den vorrückenden Deutschen 1941... Wenn man diese Berichte hört, die beschreiben, wie ein Bataillon Frauen und Kinder tötete und folterte, am Ufer des Peipsi-Sees 1941 Säure über Menschen schüttete, dann kann ich mir nicht vorstellen, was an dieser Stelle das Denkmal 'Zu Ehren der Todespatrouille‘ jungen Menschen heute sagen soll. Die Gräber der Opfer sind nach dem Krieg mit Bulldozern eingeebnet worden. Es war lange Zeit schwer, sich ein grauenhafteres Ereignis als die Deportationen von 1949 vorzustellen...“

Die erste Deportation zur „Eliminierung der estischen Nation“ fand am 14.Juni 1941 statt; die zweite ergriff die Bevölkerung der Insel Saaremaa, die ihren Widerstand am längsten aufrechterhalten konnte. Laar fordert andere, zum Beispiel Karl Vaino, der in der Roten Armee kämpfte und im letzten Jahr als Parteivorsitzender der estischen KP entlassen wurde, dazu auf, ihre Erinnerungen ebenfalls aufzuschreiben, da es nicht um ein einseitiges Bild gehe. Ebenso merkt er an, daß die Presse in letzter Zeit öfter die Frage gestellt hat, warum es keinen Widerstand gegeben habe, und fährt fort, daß es durchaus Menschen gegeben habe, die Widerstand leisteten; sie seien bisher jedoch immer nur als „anti-sowjetische Elemente“, „Sadisten“, „bourgeoise Nationalisten“ und „Terroristen“ bezeichnet worden. Es hat Untergrundorganisationen gegeben, Mitglieder der „Grünen Armee“ oder „Waldbrüder“, die zehn Jahre in den Wäldern gelebt und von dort ihren Widerstand fortgesetzt haben; in dieser Zeit, als die ganze Menschheit „das Oberste zuunterst kehrte“, wurden einige zu wilden Tieren, obwohl sie mit „sauberen Händen“ begonnen hätten, und auch ihre Jäger wurden zu Bestien. Es sei schwer, hatte Laar geschrieben, in den Vernichtungsbataillonen, von deren Untanten, dem Zusammenschlagen schwangerer Frauen und Kinder-an-Bäume -kreuzigen man hier hörte, einen Rest Menschlichkeit zu entdecken. Ja, vermutlich sei es so, daß die Menschen heute „das Schlimmste“ berichten, aber immerhin gäben die „konkrete Daten und Namen“ an. Laar sieht in diesem Artikel voraus, daß man ihm vorwerfen wird, er habe aus dem wenigen bisher Vorliegenden Verallgemeinerungen konstruiert. Immer noch fehlten tatsächlich viele Fakten und Zahlen. Niemand weiß genau, wieviele Menschen 1949 deportiert worden sind oder wieviele unter der deutschen Besatzung bereits verschwanden (zwischen 1941 und 1944). Laar schließt daraus, daß die Gesellschaft selbst vortreten muß, um ihre Geschichte zu erzählen - erst dann könne Geschichtsschreibung wieder sinnvoll werden.

Der Artikel in der 'Volksstimme‘ am 7.März erklärt, die „Annahme“, daß Vernichtungsbataillone der Roten Armee für die Zersörung dreier Dörfer, das Zusammenschlagen und Töten von Frauen und Kindern verantwortlich sei, sei falsch; solche Grausamkeiten seien von diesen Bataillonen „nie verübt“ worden, und die Verbreitung ähnlicher „Lügen“ sei ein Verbrechen, das vom Generalstaatsanwalt Estlands verfolgt und bestraft werden müsse.

Mart Laar war zum Zeitpunkt, als dieser Artikel erschien, gerade in Kanada. Warnungen, er gehe besser nicht mehr zurück, begegnete er mit dem Argument, er müsse sich zu Hause verteidigen und er habe nichts Falsches getan oder gesagt.

Dennoch muß die Berurteilung und Gewichtung dieser Berichte wohl eher Historikern als Staatsanwälten überlassen bleiben. Mart Laar darf nicht vor Gericht gestellt werden, weil er über Augenzeugen Berichte schrieb. Kanadische und französische Gruppen zu seiner Unterstützung sind bereits gegründet worden.

Clare Thomson