Eine außerordentliche Versammlung

■ Lettlands Journalisten drängen auf radikale Änderung

Am 3. und 4.Februar dieses Jahres fand in Riga eine außerordentliche Versammlung der Journalistischen Vereinigung der sozialistischen Sowjetrepublik Lettland statt.

Der Grund dieser Einberufung war unter anderem der Rücktritt des Vorsitzenden der Journalistenvereinigung, Janis Britans, gleichzeitig Chefredakteur der KP -Tageszeitung 'Cina‘ ('Der Kampf‘). Britans war im letzten Jahr aus Gesundheitsgründen zurückgetreten, saß jedoch recht vergnügt in einer der vorderen Publikumsreihen. Er versicherte: „Ich habe zwei Monate flachgelegen.“ Andere Journalisten meinten, Britans durchaus echte Krankheit habe es ihm ermöglicht, angesichts massiver Unzufriedenheit unter den Mitgliedern einigermaßen diskret den Rückzug anzutreten.

„Wir sind die letzte der sogenannten Kreativ-Vereinigungen, die Perestroika realisieren“, beschwerte sich ein Mitglied. Und die Klagen der jahrzehntelang drangsalierten Journalisten berührten denn auch jeden Aspekt ihres Berufslebens, von der Bezahlung (durchschnittlich 140 Rubel, 100 weniger als der Lohn eines Industriearbeiters) über Wohnungen bis zur Sicherheit des Arbeitsplatzes. Aivars Baumanis, hochgeschätzter Direktor von 'Novosti‘ in Lettland, sagte, man könne unendlich viele Beispiele für die völlig rechtlose Position von Journalisten aufzählen. Er sprach davon, daß lettische Journalisten praktisch niemanden hätten, der für ihre Rechte einstehen würde, und sagte, es gäbe keine Garantien für die relative Freiheit, die die Medien jetzt genießen.

Ein Fall, der als Skandal auf dieser Versammlung angeführt wurde, war der einer hohen Angestellten im lettischen Rundfunk. Am 19.Juli 1988 hatte Velta Aizupite, stellvertretende Komiteevorsitzende des Lettischen Staatsrundfunks und -fernsehens (etwa stellvertretende Intendantin) aus der Zeitung erfahren, daß sie „ihre Arbeit für eine andere verantwortliche Position“ nach 25 Jahren im lettischen Rundfunk „aufgibt“. Bis zum heutigen Tag hat sie „weder eine neue Arbeit noch eine Erklärung für ihre Entlassung“ bekommen, berichtete der Rundfunkjournalist Janis Briedis vor der Versammlung.

Obwohl die Delegierten des Treffens hauptsächlich Letten waren, zögerten einige Sprecher nicht, den Fall eines russischen Redakteurs einer Fabrikzeitung aufzugreifen, der für die Veröffentlichung eines höchst stalinfreundlichen Leserbriefes entlassen worden war. Der Redakteur hatte den Brief gedruckt, um das Ausmaß der politischen Ignoranz von in Lettland lebenden Russen zu zeigen, die weder Lettisch können noch sich die geringste Mühe geben, die sehr komplexe Situation zu verstehen.

„Bitte, wenn jemand kann, soll er unserem Kollegen Arbeit anbieten“, appellierte einer der Sprecher an den Saal.

Viele Redner drängten auf schnelle Maßnahmen zur Auflösung der lettischen Journalistengewerkschaft, einer dem Gesamtverband sowjetischer Journalistengewerkschaft angegliederten Gewerkschaft, und auf die Gründung einer unabhängigen lettischen Journalistenvereinigung. Anders als ihre litauischen Kollegen gingen die in Riga versammelten Journalisten nicht ganz so weit; allerdings stimmten sie dafür, daß ein Statutenentwurf für eine unabhängige Organisation aufgesetzt werden soll. Dainis Ivans, der Vorsitzende der Lettischen Volksfront1 und selbst Journalist, formulierte es so: „Wir brauchen eine Erklärung der Rechte - Menschenrechte, Berufsrechte, damit wir eine freie Presse kriegen in einem freien, souveränen Lettland.“ Die Journalisten wählten Viktors Avotins, einen bekannten radikalen Publizisten, zu ihrem neuen Vorsitzenden. Vor etwas mehr als einem Jahr, im Oktober 1987, war Avotins als stellvertretender Chefredakteur der liberalen Wochenzeitung 'Literatura un maksla‘ ('Literatur und Kunst‘) wegen „ideologischer Unverantwortlichkeit“ entlassen worden.

Eines der Themen, das in privaten Gesprächen mit lettischen Journalisten immer wieder auftaucht, ist ihr großes Bedürfnis nach Kontakten mit ausländischen Berufsverbänden und Organisationen zur Verteidigung journalistischer Freiheit. Sie hoffen, mehr lettische Journalisten im Ausland akkreditieren zu können, zusätzlich zum offiziellen Pressekorps der Sowjetunion (Die Adresse: Journalistenverband der Lettischen SSR, Padomju bulvaris 4, 226047 Riga, Lettland SSR, UdSSR; ihre Telefonnummer: 222332.).

Die lettischen Medien, besonders das Fernsehen, sind in ihrer täglichen Arbeit in der vordersten Front von Glasnost zu finden. Die populärste Sendung des Landes ist „Labvakar“ („Guten Abend“), eine vierzehntägige Magazin-Livesendung über Aktuelles und Kontroverses; moderiert von den drei jungen Journalisten Edvins Inkens, Ojars Rubenis und Janis Sipkevics.

Neben der relativ neuen Zeitung 'Atmoda‘ sind die Tageszeitung des kommunistischen Jugendverbandes 'Padomju jaunatne‘ ('Sowjetjugend‘) und die Monatszeitschrift 'Avots‘ ('Der Frühling‘) zweifellos die radikalsten lettischen Zeitungen. Juris Kajaks von der unabhängigen Nachrichtenagentur 'Latvnia‘ bestätigte außerdem, daß er trotz einer kürzlichen Attacke des Ersten Sekretärs Janis Vagris gegen „informelle“ Publikationen wie 'Auseklis‘ ('Morgenstern‘) und 'Latvnia‘ zu Pressekonferenzen der Regierung zugelassen ist und seine Berichte in der offiziellen Presse zitiert werden. Einigermaßen zuversichtlich meinte er außerdem, er erwarte die Anerkennung 'Latvnias‘ als „legale Einheit“ noch für diesen Frühsommer.

„Sobald wir anerkannt sind, wollen wir ein neues Bulletin herausgeben. Und da werden die Schwierigkeiten anfangen: kein Papier.“ Juris Kajaks ist von Beruf, wie mehrere Gründer von 'Latvnia‘, Ingenieur. Die einzige „echte“ Journalistin bei ihnen ist - eine Russin, die zusätzlich für die russischsprachige Ausgabe von 'Sowjetland‘ arbeitet.

Die Arbeit von 'Latvnia‘ ist weit entfernt von der einer westlichen Agentur. Immerhin kommt relativ regelmäßig ein Bulletin heraus mit einer Mischung von Dokumenten, Ankündigungen und Petitionen, inklusive etwas langatmiger politischer Traktate. Aber man findet darin auch Kurzmeldungen und Ankündigungen politischer Aktionen wie Treffen und Demonstrationen; Maßnahmen der Behörden, die „informelle“ politische Gruppen treffen könnten.

Juris Kajaks sagt, es sei ihr Traum, mit einer westlichen Nachrichtenagentur Kontakt herzustellen und als Stringer -Service für sie zu arbeiten, sowohl Texte als auch Photos zu liefern: „Wir haben Übersetzer hier, die gute englische Texte produzieren können.“

1 Seit Frühjahr 1988 existierende nationale Organisation in den baltischen Republiken; erfolgreich in den Märzwahlen 1989, jedoch von radikaleren „Bürgerkomitees“ bereits als zu moderat kritisiert.