Tschernobyl und die Ukraine

■ Ein Gespräch mit zwei ukrainischen Aktivisten im Botanischen Garten von Kiew

Irena Maryniak

Irena Maryniak: Wir im Westen glauben gerne, daß wir zumindest eine Vorstellung haben von den Umweltproblemen, mit denen Sie hier konfrontiert sind. Über das Ausmaß der Boden-, Wasser- und Luftverschmutzung in der Ukraine wissen wir sowohl aus den sowjetischen als auch unseren eigenen Medien. Glauben Sie, daß Glasnost sich in bezug auf ökologische Probleme durchzusetzen beginnt, oder kratzt das alles weiterhin nur an der Oberfläche?

Oles Shevchenko: Wir können jetzt sehr viel mehr in der Öffentlichkeit darüber sprechen, aber trotzdem glaube ich, daß Glasnost im Zusammenhang mit der Umweltproblematik nur bis zur Diskussion von Naturschutz reicht, was natürlich nicht viel ist. Wir können z.B. nicht über die Folgen von Tschernobyl sprechen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir keinen Zugang zu Informationen über die verseuchte Zone und der Gefahr, die sie immer noch bedeutet, haben.

Viktor Margitch: Es hat einen ministeriellen Erlaß gegeben, der die Veröffentlichung neuer Ergebnisse zum Tschernobyl -Unfall selbst und jeglicher Fakten über Radioaktivität oder der bei den Opfern festgestellten radioaktiven Verseuchung verbietet. All das wird als offizielle Geheimsache behandelt und darf nicht in die Presse kommen. Bis heute haben wir nicht einmal eine Karte gesehen, auf der Details über radioaktive Verseuchung im Kiew-Distrikt, um Zhitomir herum oder in anderen betroffenen Gebieten verzeichnet wären. Allerdings ist ein Film gemacht worden, der auf privaten Veranstaltungen gezeigt wird. Sein Titel istMikrophon, dort wird bespielsweise eine Radioaktivität von 2.360 Mikroröntgen pro Stunden für das Narodishski-Gebiet im Zhitomir-Distrikt gemessen. Eine Krankenschwester, die dort interviewt wird, sagt, daß vor der Katastrophe Mund- und Kehlkopfkrebs in der Gegend nahezu unbekannt gewesen seien. Innerhalb des letzten Jahres hat sie 23 Fälle gesehen. Auch mutierte Ferkel und Kälber werden gezeigt (einige sind blind geboren, anderen sind die Gliedmaßen nach innen gewachsen) -, das spricht alles für sich selbst. Dennoch leben in diesen Gebieten immer noch Frauen und Kinder; ihre Evakuierung scheint nicht vorgesehen.

Was die Radioaktivität in Kiew betrifft, tappen wir total im dunkeln. Trotzdem sind medizinische Zentren eingerichtet worden, die sich auf eine zunehmende Zahl von Krebspatienten vorbereiten, die man nach der Katastrophe erwartet. Kein Mensch gibt uns Auskunft über die erwartete Zunahme (obwohl das vielleicht noch verständlich ist), und man gibt den Menschen keinerlei Hinweise, mit welchen Maßnahmen sie sich vielleicht schützen könnten.

Was ist mit den Menschen, die unmittelbar betroffen waren von der Katastrophe? Gibt es irgendwelche Nachrichten über sie?

Margitch: Die Bewohner von Tschernobyl hatten noch zwölf Stunden nach dem Unfall keine Ahnung davon, daß Radioaktivität in die Atmosphäre entlassen worden war. Dann sagte man ihnen, sie sollten Jodtabletten einnehmen. Selbst als sie schließlich evakuiert wurden, kannten sie noch nicht die Stärke der Radioaktivität, der sie ausgesetzt waren. Später wandten sich einige an Bnamte um Hilfe, einschließlich die Ministerratsvorsitzende Valentina Shevchenko, an den Präsidenten der Ukraine und Michail Gorbatschow selbst - und natürlich an ausländische Medizinexperten. Sie bekamen keine Antwort; wir wüßten gerne, warum. Ihre Briefe müssen registriert worden sein, und wir werden versuchen, ihnen auf die Spur zu kommen... Ich habe auch von einem der Opfer gehört, daß seine Diagnose auf Strahlenkrankheit, die er einen Monat nach dem Unfall erhielt, später zurückgezogen wurde, und daß die Testergebnisse, die die Dosis, der er ausgesetzt war, zeigen, verschwunden sind. Jeder Beweis dafür, ob er nun die Strahlenkrankheit hat oder nicht, ist weg. Und wir vermuten natürlich, daß die Zahl der Menschen, die daran erkrankt sind, wesentlich höher ist als die offizielle Zahl.

Ich habe gehört, daß mehrere informelle Organisationen - in denen Sie selbst auch aktiv waren - gegründet worden sind, die diesem offiziellen Blackout etwas entgegenzusetzen versuchen. Ich wüßte gerne mehr darüber.

Shevchenko: Am 26.April letzten Jahres gab es eine Demnonstration zur Erinnerung an Tschernobyl. Der Ukrainische Kultur-Club, eine der ersten informellen Gruppen, die sich hier bei uns in den letzten Jahren gebildet hat, organisierte das. Es war ein „Ökologie -Ereignis“, kein politisches, und dennoch reagierten die Behörden mit großer Brutalität. Polizisten schleppten Demonstranten weg und schmissen sie in die Autos, einige wurden an den Haaren über den Asphalt geschleift. Etwa 50 Menschen wurden auf die Weise verhaftet, ich selbst verbrachte 15 Tage in einer Strafzelle, weil ich ein Banner getragen hatte, auf dem eine Volksbefragung zur Atomenergie gefordert wurde, und weil ich den Verfassungsartikel, der uns das Recht auf Versammlung garantiert, laut vorgelesen hatte.

Seitdem sind weitere informelle Gruppen in Aktion getreten. In der größten ist die ökologische Bewegung „Zeleny Svit“ („Grüne Welt“); sie ist in der gesamten Republik verbreitet. Auch die ukrainische Helsinki-Gruppe kümmert sich um Umweltthemen, obwohl sie mehr eine Menschenrechtsorganisation ist und vielleicht als informelle Volksfront bezeichnet werden kann. Alle Anstrengungen, eine offizielle Volksfront der Ukraine zu formieren, sind vom regionalen Parteiapparat vereitelt worden, wie Sie vermutlich wissen. Die Ukraine ist die einzige Sowjetrepublik, die seit Gorbatschows Machtantritt keinen Wechsel an der Parteispitze gesehen hat.

Der Erste Sekretär, Wladimir Shcherbitsky, ist ein treuer Breschnew-Anhänger geblieben und völlig unfähig, irgendwelche Reformen in Gang zu setzen. Wir glauben, daß Moskau ihn hält, um die demokratische Entwicklung in Schach zu halten und vor allem die ukrainische Nationalbewegung nicht hochkommen zu lassen. Denn das Erwachen einer Nation von 50 Millionen Menschen kann für die Sowjetunion sehr gefährlich werden. Lenin wußte das, als er sagte: „Wenn wir die Ukraine verlieren, verlieren wir alles.“

Den Behörden in Moskau ist vollkommen klar, daß die Bedeutung der Ukraine unvergleichlich viel größer ist als die der baltischen Staaten oder Transkaukasiens. Sie garantiert überhaupt erst die Existenz der Sowjetunion. Moskaus Politik gegenüber der Ukraine ist nichts anderes als koloniale Ausbeutung. Die Republik umfaßt nur etwa 2,7 Prozent des sowjetischen Territoriums, aber die nukleare Energiekapazität macht die Hälfte der des gesamten Landes aus, und ihre Industrie liefert 25 Prozent der gesamten industriellen Produktion der Sowjetunion.

(Hier näherte sich uns ein kräftig gebauter, älterer Herr, der während der letzten Minute in unserer Hörweite aufgetaucht war und die Vögel gefüttert hatte. Er ging dicht an uns vorbei, langsam zum Vogelfutterplatz etwa 20 Meter weiter den Weg hinauf. Der junge Mann, der leidenschaftlich die Birken angestarrt und vorher in unserer Nähe gesessen hatte, war spurlos verschwunden.)

(nach einer kleinen Pause) Ich hatte gehofft, Sie könnten uns vielleicht mehr über die Zeitungen sagen, die von diesen informellen Gruppen herausgegeben werden (sieht, daß Shevchenko zögert), aber vielleicht lieber doch nicht...

Shevchenko: Aber ja, warum nicht. Ich werde Ihnen über den Samisdat etwas sagen. (in Richtung Tonband) Ist es noch an?

Ja.

Shevchenko: Also dann... Die ukrainische Helsinkivereinigung gibt eine Zeitschrift heraus mit dem Titel 'Ukrainsky Vestnik‘ ('Ukrainischer Bote‘), der zuerst 1970 erschien. Drei Redaktionen sind der Reihe nach verhaftet worden, danach stellte man die Zeitung ein. Erst jetzt, unter der Politik, die wir so gern „Perestroika“ nennen, wird die Zeitschrift wieder gemacht und zirkuliert. Ihr Redakteur ist Wyacheslaw Chornobil. Die Helsinki-Gruppe gibt auch Flugblätter heraus mit den neusten Nachrichten über die politische und ökonomische Entwicklung in der Republik und über Aktivitäten der informellen Gruppen. Andere Publikationen sind jünger. 'Kafedra‘ erscheint in Lwow, und es gibt noch einen Almanach mit dem Titel 'Yewshen Zillia‘ (das heißt „Holzwurm„; der Holzwurm - ein anderer Name für ihn ist „Tschernobyl“ - soll der Sage nach die Erinnerung an die Heimat wiederbringen). Seit kurzem erscheinen auch in Kleinstädten neue Zeitungen.

Was ist die Funktion dieser Zeitungen unter Perestroika?

Shevchenko: Dort wird veröffentlicht, was die parteigebundene Presse nicht druckt. Die Parteizeitungen haben die demokratische Bewegung vollkommen ignoriert. Selbst die Schriftstellergewerkschaft mußte lange und hart kämpfen, um den Programmentwurf der Volksfront zur Unterstützung von Perestroika publizieren zu können. Am Ende erschien es dann in der Gewerkschaftszeitung der Schriftsteller, der 'Literaturnaya Ukraina‘, aber nirgendwo sonst. Die anderen Zeitungen fühlten sich trotzdem bemüßigt, den Text in einer Weise anzugreifen, der sehr an die Pressekampagne gegen Andrej Sacharow zu Beginn der achtziger Jahre erinnerte.

Margitch: 'Literaturnaya Ukraina‘ hat allerdings nur eine sehr kleine Auflage, ein Exemplar pro 700 Leser.

(Der kräftig gebaute ältere Herr war zurückgekehrt und stand jetzt direkt vor Victor Margitch. Er trug einen dunklen Mantel und hatte ein aufgedunsenes Gesicht mit hervorquellenden Augen.)

Shevchenko: Ja, ungefähr nur 100.000 Exemplare.

Älterer Herr: Guten Morgen.

Margitch: Guten Morgen.

Älterer Herr: (streckt seine große Hand V.M. entgegen) Samen für die Vögel?

Margitch: (trocken) Nein danke. Im Moment nicht.

Shevchenko: Entschuldigung. Wir sind beschäftigt.

Älterer Herr: Achso, ja... (Pause) Naja, dann... Entschuldigen Sie.(Er geht langsam zurück zum Vogelfutterplatz. Shevchenko räuspert sich mit einem kleinen Husten.)

Das Gespräch führte Irene Maryniak, Index-Expertin für die UdSSR, Anfang des Jahres mit dem ukrainischen Aktivisten Oles Shevchenko, der lange im Gefängnis war, und Viktor Margitch von der ukrainischen Helsinki-Gruppe. Während des Interviews werden die drei stetig umkreist von vogelfütternden, Eichhörchen beobachtenden und Birken bestaunenden Männern. Eine mithörende Frau wird bald als „Volkes Stimme“ identifiziert. Der vorliegende Text ist ein Auszug.