Abstecher ins Mittelgebirge: Der Vogelsberg

DER VOGELSBERG

„Welch eine Kraft ist über diese Berge ausgegossen und wie hat sie diese Massen gebändigt, die Glieder hingereckt und unter den Himmel gelagert! ... Felsen weiß ich im Wald sich türmen und aus der Urzeit geworfen, riesenhaft gelagert unter den Bäumen schlafen.“

Befremdet lese ich diese Zeilen. Sie entstammen einem Verkehrsbuch vom Vogelsberg. In dem schmalen antiquarischen Band von ca. 1910 verfaßte Franz Como* eine Hymne an die Schönheiten des Vogelsbergs. Ich folge seiner Spur und gelange in ein bundesdeutsches Mittelgebirge. In nüchternen Worten: Von seiner geographischen Lage her liegt der Vogelsberg im Zentrum der BRD. Gemessen an seiner wirtschaftlichen und touristischen Bedeutung ist er eine Randerscheinung. Nichts Spektakuläres läßt sich auf den ersten Blick von ihm berichten. Keine markanten Gipfel fallen ins Auge. Das ehemals von Reisenden gemiedene „öde Gebirg“ ist als Gebirgsregion kaum zu identifizieren. Eher flach liegt das Basaltmassiv, eingerahmt von neu herausgeputzten Fachwerkstädten wie Lauterbach, Gedern, Schotten, Laubach, Grünberg. Nördlichster Punkt ist Alsfeld, hier begrenzt die BAB Frankfurt-Kassel den Vogelsberg.

“ ... in der Ferne ruht am Himmel blau und ungeheuerlich ein Sarkophag, der Hoherodskopf, der Oberwald... Hoch oben liegt er auf der Gipfelmasse des Vogelsbergs, ist stundenlang, stundenbreit... einsam und fern von den Wohnungen der Menschen baut er die Säulen und schließt die Wölbungen eines Heiligtums, eines Tempels.„

Der Wald ist das traditionsreiche deutsche „Heiligtum“. Meine Annäherung an sein Innerstes führt durch eine karge Gegend. Von jeher arm und unwirtlich, ernährte sie ihre Bewohner mehr schlecht als recht. Ein rauhes Klima, hohe Niederschläge, kalte Winde und steinige Böden machten der Land- und Viehwirtschaft das Auskommen schwer. Der Kampf ums materielle Dasein verhinderte die Ausbildung einer blühenden Kultur beispielsweise in Bauweise und Kunsthandwerk. Die Holzverarbeitung brachte solide Handwerksarbeit hervor und diente überwiegend dem Eigenbedarf. Flachsspinnerei und -weberei wurden in Heimarbeit betrieben und waren als Zuerwerb nötig. Es gibt keine ausgefallenen Traditionen, die sich für den Tourismus ausschlachten lassen, und keine außergewöhnlichen touristischen Attraktionen. Auch vom Landschaftsbild her fehlt dem Vogelsberg, wie schon Como bemerkte, „jene Schönheit, die sinnfällig wirkt“. Sein Reichtum ist unter heutigen Gesichtspunkten eher abstrakt: Er liegt in seinem Naturpotential.

Naturliebhaber und Wanderfreunde konservativen Zuschnitts, seit über hundert Jahren im Vogelsberger Höhenclub (VHC) organisiert, erreichten nach langen Bemühen 1956, daß der Hohe Vogelsberg mit seinem Oberwald zum Landschaftsschutzgebiet erklärt wurde. 1958 wurde der Naturpark Hoher Vogelsberg gegründet. Vor allem den Aktivitäten des VHC ist es zuzuschreiben, daß der Vogelsberg touristischen Bedürfnissen erschlossen wurde. Ein Netz von markierten Wanderwegen überzieht die Region. Zahllose Frankfurter haben hier ihre Zweitwohnsitze. Für ein paar Stunden frische Luft ist der Vogelsberg ein ideales Ausflugsziel.

„Behütet glitzern dort Quellen auf überm schwarzen Grund, fallen in Strähnen über Moos und Steine, murmeln aus der Einsamkeit, verklingen in der Stille und verweben die feinen Stimmen in dem Chor der Wipfel.„

Jenseits aller Seelenkost ist das Wasser die wertvollste Ressource. Die geologische Besonderheit seines Untergrundes in Verbindung mit hohen Niederschlägen machen den Vogelsberg zu einem Wasserspeicher, auf den die Stadt Frankfurt ein wachsames Auge hat. Sie holt sich hier ihr bestes Wasser. Sorgenvolle Stimmen fragen mit Blick auf die Zukunft, wann der Vogelsberg leergepumpt sein wird und welche Folgen daraus dem gehegten Naturreservoir erwachsen.

„Ich weiß gut, daß die Götterdämmerung, daß der Untergang in unser Gebirg noch nicht gekommen ist. Freilich wer die Alten hat erzählen hören..., der fühlt sich wie vor ein Bild der Meister des 15.Jahrhunderts gestellt. Das Gemälde ist schadhaft geworden.„

Es bröckelt nicht allein deswegen, weil Frankfurt das Gebirge trockenlegt. Einerseits offen für großstädtische Wasserinteressen und die Regenerationsbedürfnisse ihrer Bewohner, transportiert die Stadt im Gegenzug Normen und Orientierungsmaßstäbe in die Region. Wie in anderen vergleichbaren Gebieten veränderte sich das spezifische bäuerlich-handwerkliche Gepräge. Die staatliche Modernisierungspolitik der Nachkriegszeit hat mittels Flurbereinigung, Straßenbau, Förderung der Agrarindustrie usw. das Ländliche zusehends verschwinden lassen. Man sollte sich von der wiedererwachten Fachwerkidylle nicht täuschen lassen: Sie ist Modernisierung mit anderen Mitteln. Quasi als Ausgleich für die Vereinheitlichung der Lebensräume entstehen über Sanierungsvorhaben Kleinstadt- und Dorfbilder einer gleichsam intakten Kulturform, die, oftmals an historischen Vorbildern orientiert, ihrer aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen entbehren.

Ich nehme neuere Prospekte vom Vogelsberg zur Hand und betrachte die bunten Bilder: Bäuerinnen in Trachten, beim Spinnen abgelichtet, den Bauer, der mit dem Pferd den Acker pflügt, Wanderer in Kniebundhosen mit roten Strümpfen und karierten Hemden, überall Fachwerk und rustikale Gemütlichkeit. Ist das der Vogelsberg? Die Bilder wirken nicht minder befremdlich als Comos Text. Andererseits könnten Wandersleut‘ und alle weiteren werbewirksamen Elemente gleichwohl dem Rothaargebirge oder Fichtelgebirge entnommen sein. Die bäuerliche Kulisse ist austauschbar. Im Prospekt ähnelt der Vogelsberg jeder anderen bundesdeutschen Mittelgebirgsregion.

Das Freizeit- und Erholungsangebot ist ebenso standardisiert. Es verspricht „Urlaub nach Maß“ mit den entsprechenden Einrichtungen (Schwimmhallen, Tennisanlagen, Kurbetrieb, Skilifte, Langlaufloipen etc.). Das Mittelgebirge als Reiseziel hat ein präzises Image, zugeschnitten auf ein überschaubares Klientel. Erlebnishungrige und jung-dynamische Aufsteiger werden sich hierher nicht verirren.

„Ich meine wahrhaftig, daß es um ein Gebirg so beschaffen wär wie um einen Menschen; um die Berge so wie um ein Volk. Ich meine, der Vogelsberg hätte eine Seele.„

Was die Prospekte eher verhindern, legt Comos romantisierende Landschaftsästhetik frei, denn sie beruht auf identifizierbaren Elementen der Vogelsberger Natur- und Kulturlandschaft. Von ihm als „Seele“ bezeichnet, geht es profan um die spezifischen Reize dieser Region.

Sperrigkeit, Widerborstigkeit machen den Reiz der Landschaft aus. Gegen alle Einsprengsel von bilderbuchhafter Lieblichkeit behauptet sich im Gesamteindruck deren unpretentiöse Kargheit. Vorgelsberglandschaft ist unterhalb des Oberwaldes Heckenlandschaft auf langgedehnten Höhenzügen. Hecken bildeten sich überall dort, wo Basaltblöcke und Lesesteine der Feldfluren abgelagert waren. Die Flurbereinigungsmaßnahmen haben hier großflächige Veränderungen bewirkt, aber verschwunden ist die Heckenlandschaft nicht. Die naturalen und sozialen Verhältnisse sperrten sich gegen die radikale Umwandlung der traditionellen Weidewirtschaft in eine Agrarindustrie. Die bäuerliche Wirtschaftsweise erhielt sich damit auch ihre landschaftsgestaltende Bedeutung.

Ein Wandel anderer Art zeichnet sich nunmehr über EG -Auflagen und mangelnde Rentabilität der Höfe ab. Die intensive Nutzung von Gunstgebieten wie beispielsweise der vorgelagerten Wetterau machen die Produktion der Gebirgsregion weithin überflüssig. Als „Grenzertragsflächen“ hat die Vogelsberger Landwirtschaft ihre Existenzberechtigung nahezu verloren. Mittlere und kleine Höfe geben zunehmend auf, und das Land fällt brach. Aufwendige Pflegemaßnahmen wären vonnöten, um zumindest den Charakter der Landschaft zu erhalten. In Verbindung mit Naturschutz und Tourismus wird von seiten der Landesregierung eine Lösung angestrebt, die aber in der Konsequenz die verbliebenen Bauern zu staatlich bestallten Landschaftspflegern umfunktioniert.

„Wer Romantik sucht, darf nicht in unser Gebirg einkehren... Wie es Menschen gibt, die ihr Inneres hüten, die sich nicht geben und die man wie im Kampf erobern muß, so ists um bestimmte Landschaften... Der Vogelsberg ist so recht das Gebirg‘ der paysage intime...„

Welch intimes Vergnügen fände Herr Como heute, nach 80 Jahren, an seinem Vogelsberg? Als Projektionsraum für seine Innerlichkeit stünde er ihm weiterhin offen. Die - wenn auch unvereinbaren - Interessen von Naturschutz, Tourismus und Wasserwirtschaft scheinen vorerst den Erhalt dieser kostbaren Naturressource zu sichern. Der Preis hierfür besteht in einer gewissen Künstlichkeit der Region, der langfristig die bäuerliche Landwirtschaft fehlen wird, die die Basis ihres spezifischen Gepräges bildete. Das Image des Vogelsberges bliebe erhalten, aber kaum merklich geht ein Funktionswandel vonstatten. Als Regenerationsraum, der wirtschaftlichen Ballungszentren korrespondiert, hat er Aussichten, sich tatsächlich jener freizeitgerechten Prospektlandschaft anzugleichen, wie sie uns heute schon angedient wird. Die Entwicklung zur Naturkonserve mit ländlich-kulturellen Versatzstücken wäre die Folge. Liegt die Zukunft des Vogelsberges im Freizeitpark?

Christel Burghoff

* Franz Como, geboren 1877, war Oberlehrer in Lauterbach. Er engagierte sich begeistert für die Heimat und die Anhebung des örtlichen Fremdenverkehrs.