„Das Erreichte konsolidieren“

■ Nicaraguas Wirtschaftsminister Luis Carrion hält die „großen revolutionären Aufgaben“ für bewältigt / 10 Jahre nach der Revolution will die FSLN das westliche Demokratiemodell erproben / Mischwirtschaft und politischer Pluralismus / „Wir können selbst nicht voraussagen, wie sich die Dinge entwickeln werden.“

Der 36jährige Comandante Luis Carrion Cruz ist Mitglied des neunköpfigen Nationaldirektoriums der FSLN und seit etwas mehr als einem Jahr Wirtschaftsminister.

taz: Im zehnten Revolutionsjahr wurden der nicaraguanischen Bevölkerung eine Reihe von Austeritätsmaßnahmen verordnet, die wenig mit revolutionärem Anspruch zu tun haben. Welche Alternativen hatte die Regierung diskutiert, um der Krise Herr zu werden?

Luis Carrion: Unsere Optionen waren angesichts des ernsten strukturellen und Zahlungsbilanz-Ungleichgewichtes sehr beschränkt. Es wurden nur zwei Alternativen überlegt: die eine, die schließlich angewandt wurde (die Freigabe aller Preise, d.Red.) und die Variante der Kriegswirtschaft. Das hätte eine Rückkehr zur Erfahrung der vergangenen Jahre bedeutet, aber mit mehr Strenge: Preiskontrolle, Rationierung der Grundnahrungsmittel, gesteuerte Verteilung der Produkte... Vom innen- und verteidigungspolitischen Standpunkt wäre diese Option sehr attraktiv gewesen, weil sie für gerechte Verteilung der Ressourcen sorgt und bei den Armen gut angekommen wäre.

Die Agrarpolitik war immer schon eine widersprüchliche Angelegenheit mit dem ewigen Seiltanz zwischen den Forderungen der Campesinos und der Notwendigkeit, der Agrarbourgeoisie Produktionsanreize zu bieten.

Die Widersprüche liegen nicht in der Politik, sondern in der Realität. In der nicaraguanischen Wirtschaft, vor allem der Landwirtschaft, haben Privatproduzenten immer eine wichtige Rolle gespielt und tragen einen erheblichen Teil zur Wertschöpfung bei. Die Suche nach einer Politik, die Kosten und Nutzen in ausgeglichenem Maße auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen verteilt, ist der einzig gangbare Weg, der letzten Endes zu einer stabilen Mischwirtschaft führt, wie wir sie verfechten.

Bedeutet der Versuch der Verständigung mit dem Privatsektor, der seit einigen Monaten unternommen wird, eine neue Qualität im Verhältnis Revolutionsregierung/Unternehmertum?

Die qualitativ neue Etappe ist das Bestreben der Regierung, die Basis der Mischwirtschaft zu stabilisieren. Wir bemühen uns, alle Gruppen des Landes einschließlich der Privatunternehmer zur gemeinsamen Bewältigung der Wirtschaftskrise zusammenzurufen. Das kann zu einem qualitativ neuen Stil in der Wirtschaftspolitik führen. Bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen sollen die Interessen aller in Betracht gezogen werden. Diese Politik kann aber nur funktionieren, wenn der Privatsektor auch eine konstruktive Haltung einnimmt und die Opfer mit dem Rest des Landes teilt. Er muß auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Hyperinflation leisten. Die Politik der Umverteilung des Reichtums stellen wir dabei aber nicht zur Debatte.

Heißt das eine Planwirtschaft mit Beteiligung der Privatunternehmer?

Heutzutage sprechen wir längst nicht mehr von Planwirtschaft. Ich spreche von wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die für die einzelnen Betriebe Konsequenzen haben. Eine Planwirtschaft ist immer weniger machbar in dem Maße, wie wir dem Mechanismus des Marktes mehr Gewicht geben.

Comandante Tomas Borge hat einmal gesagt, daß Prinzipien wie Mischwirtschaft und politischer Pluralismus anfangs taktischer Natur waren, aber im Laufe der Zeit zu strategischen Grundsätzen geworden sind.

Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Wir hatten am Anfang der Revolution nur sehr allgemeine Vorstellungen von der Entwicklung. Wir hatten intellektuelle und konzeptuelle Ideen, wie wir gewissen Entwicklungen begegnen würden, aber keine praktische Erfahrung, wie man revolutionäre Transformationen voranbringt. Es gab natürlich in der FSLN verschiedene Perspektiven und Vorstellungen von der Zukunft. Einige glaubten, daß man schnell zu einer sozialistischen Gesellschaft gelangen könnte. Andere hielten das nicht für machbar und betrachteten Mischwirtschaft und Pluralismus nicht als flüchtige Elemente, sondern als Eigenheiten unseres Prozesses auf unbestimmte Zeit. Die Praxis des Kampfes hat dann bewirkt, daß diese verschiedenen Meinungen hinsichtlich dieser Grundsätze vereinheitlicht wurden, nicht nur auf der Ebene des Nationaldirektoriums, sondern auch bei den mittleren Kadern.

Ein anderes Problem ist, daß diese Grundsätze in den vergangenen Jahren unter den Bedingungen der kriegerischen Aggression nicht immer voll zum Durchbruch kamen. In einer Kriegssituation mußten wir den internen Widersprüchen mit Methoden des Krieges begegnen: mit Zwang und Repression. Wir paralysierten die Aktivität der politischen Parteien und schlossen die Zeitung 'La Prensa‘ und andere Massenmedien. Aber wir haben 'La Prensa‘ nicht konfisziert und die Parteien nicht aufgelöst. Wir haben also keine irreversiblen Schritte gegen Pluralismus und Mischwirtschaft gesetzt. Mit den verbesserten außenpolitischen Bedingungen und dem Rückgang der kriegerischen Auseinandersetzungen haben Innenpolitik und Wirtschaft bald eine relative Normalität angenommen. Heute haben sich die Methoden der Auseinandersetzung verändert: wir sind in eine Phase des Wahlkampfes mit ideologischem Kampf getreten - Methoden, die einem politischen Pluralismus entsprechen.

Es gibt auf der Welt kein Beispiel einer Revolution, die das westliche Demokratiemodell übernommen hat, ohne die Fähigkeit zu verlieren, revolutionäre Veränderungen in Gang zu setzen. Soll Nicaragua beispielgebend sein?

Wir versuchen das erste Beispiel zu sein. Der Weg, der vor uns liegt, ist in keinem Buch vorgezeichnet und von keinem Land vorgelebt worden. Wir können selbst nicht voraussagen, wie sich die Dinge in unserem Land entwickeln werden. Vielleicht liegt die Aufgabe der nächsten Jahre darin, das Erreichte zu konsolidieren. Und die wirtschaftliche, politische und soziale Konsolidierung. Vielleicht wird es in den nächsten Jahren nicht notwendig sein, weitere große Umwälzungen zu bewirken. Vorrang hat der Wiederaufbau nach soviel Zerstörung und Leiden.

Man kann in den letzten Jahren Ansätze zur Demokratisierung in den Massenorganisationen beobachten. Heute hört man kaum noch die Parole „Nationaldirektorium befiehl“. Wie erklärt sich diese Entwicklung?

Es gibt mehrere Faktoren, die da mitspielen. Auf der einen Seite die Verminderung der politischen und militärischen Aggression als Produkt der Schwächung der Contra. Dadurch verändern sich die Rahmenbedingungen, in denen die politischen Kräfte dieses Landes agieren. Zweitens hat es mit der Überzeugung der FSLN zu tun, daß die Massenorganisationen den Massen gehören müssen, um ein effektives politisches Instrument zu sein. Die politische Arbeit, die die Sandinistische Front in diesen Organisationen leistet, wird viel effizienter sein, wenn diese nicht als Privateigentum der Partei betrachtet werden. Außerdem können sie nur so die Meinung der jeweiligen Gruppen repräsentieren. Deswegen hat die FSLN die fortschreitende Demokratisierung der Massenorganisationen gefördert. Es gibt noch einen Faktor: wir brauchen so viele Basisinitiativen wie möglich, um den Problemen des Landes gewachsen zu sein.

Ist das für die FSLN ein Lernprozeß gewesen, oder ist die autoritäre Politik der ersten Jahre notwendig gewesen, um diese Organisationen zu konsolidieren?

Die Umstände in den ersten Revolutionsjahren unterschieden sich wesentlich von den heutigen: Am Anfang standen die Jahre der großen revolutionären Offensive. Eine Arbeiterbewegung, die praktisch keine Gewerkschaften hatte, schuf in wenigen Monaten eine - für hiesige Verhältnisse mächtige Gewerkschaftsbewegung. Die Landarbeiter, die nie irgendwie organisiert waren, haben sich fast spontan zusammengeschlossen. Es gab ein revolutionäres Aufkeimen, das durch den Sieg vom 19.Juli 1979 ausgelöst worden war. Alle diese Kräfte wurden durch einen großen Konsens und Klarheit über die zentralen Aufgaben zusammengehalten. Und dann begann der Krieg. Damit wurden die Aktionen der Massenorganisationen durch die Revolutionsführung zentral vorgegeben. Mit der veränderten Situation und nachdem die großen revolutionären Aufgaben bewältigt sind, kann man sich jetzt den kleinen Dingen widmen und der Konsolidierung des Erreichten. Man muß die Methoden verändern, weil sich die Umstände geändert haben und neue Ziele auftauchen.

Interview: Ralf Leonhard