„Dicht vor der Katastrophe“

Gerd Leipold/Greenpeace über die Havarie des sowjetischen Atom-U-Boots: „Alles deutet auf einen schweren Unfall“ / „Im Ernstfall nur das ganze U-Boot zu versenken“  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie beurteilen Sie das Ausmaß des letzten U-Boot -Unfalls vor der norwegischen Küste?

Gerd Leipold: Es war einer der dramatischsten Unfälle mit einem Reaktor, der sich in den letzten Jahren ereignet hat. Der Unfall reichte dicht an eine Katastrophe heran. Nach den vorliegenden Informationen hat es einen schweren Defekt im Primärkreislauf gegeben mit der Gefahr einer Kernschmelze.

Gibt es denn sichere Informationen, daß sich ein Leck oder sogar eine Explosion im Primärkreislauf ereignet hat, also im Innern des Reaktors?

Der sowjetische Minister Jasow hat gleich am Montag zugegeben, daß es ein Leck gegeben hat. Auch die Fernsehbilder mit dem austretenden Dampf bestätigen das. Es gibt noch andere Indizien. Auffällig ist, daß sich die Mannschaft am vorderen Ende des U-Boots versammelt hatte, während der Reaktor am hinteren Ende sitzt. Auch der verzweifelte Versuch, vom Begleitschiff aus Wasser auf den Reaktor zu pumpen, zeigt, daß man versucht hat, von außen notdürftig zu kühlen, um eine Katastrophe zu verhindern. Alles deutet auf einen schweren Unfall im Primärkreis hin.

Ein U-Boot-Reaktor ist viel kompakter gebaut. Was passiert dort nach einem Leck im Primärkreislauf?

Der Druck fällt sofort ab, eine ausreichende Kühlung ist nicht mehr gewährleistet, und die Brennelemente heizen sich auf. Am Ende steht die Kernschmelze. Durch die kompaktere Bauweise geht alles viel schneller als bei einem Landreaktor. Man hat schätzungsweise nur halb soviel Zeit, um eine Notkühlung einzuleiten und den Reaktor abzuschalten.

Welche Notkühlsysteme existieren an Bord?

Darüber habe ich keine exakten Informationen. Aufgrund des Raummangels sind sie sehr reduziert. Es gibt zwar Wassertanks, aber nur mit begrenztem Volumen. Der Kapitän kann außerdem nur als letzte Lösung Meerwasser für die Notkühlung verwenden, weil dies zu extremer Korrosion führen würde. Größere Mengen an Meerwasser würden das gesamte U -Boot unbrauchbar machen. Und für den Kapitän steht zunächst die Sicherheit des Schiffes an erster Stelle. Für die Besatzung bestand natürlich die Gefahr, daß durch das Leck radioaktiver Dampf austritt und sich im U-Boot ausbreitet. Das ist wegen des heißen Dampfes und der starken Radioaktivität sehr bedrohlich. Ich nehme an, daß man deshalb versucht hat, auslaufendes radioaktives Kühlwasser über Bord zu pumpen.

Man hat dann versucht, durch Begleitschiffe Wasser auf den Reaktor zu pumpen.

Das ist natürlich nur eine Notmaßnahme. Man kann ja nicht das ganze U-Boot mit Wasser auffüllen, und man kommt ja andererseits nur schlecht oder gar nicht an den Reaktor heran.

Die Katastrophe wurde offenbar verhindert, weil es gelang, den Reaktor rechtzeitig herunterzufahren.

Es muß ziemlich schnell gelungen sein, den Reaktor herunterzufahren. Dann ist das Leck aber immer noch da mit großen Mengen an Kühlwasser und radioaktivem Dampf, der enorm stark belastet ist. Es wäre ein Wunder, wenn nicht große Mengen an Radioaktivität freigesetzt worden sind, und es wäre ein Wunder, wenn die Mannschaft nicht ganz beträchtlich verstrahlt worden ist. Auch die letzte 'Tass' -Meldung (siehe Artikel oben) ist ein Indiz dafür, daß sich radioaktiver Dampf und Kühlwasser im U-Boot verteilt haben und daß man sich deswegen nicht mehr bewegen kann, ohne radioaktiv verstrahlt zu werden.

Welches radioaktive Potential hat solch ein U-Boot?

Nach einer groben Schätzung hat das letzte abgesoffene U -Boot der Sowjets ungefähr 10 bis 20 Millionen Curie enthalten (ein Curie entspricht 37 Milliarden Becquerel). In Tschernobyl wurden ungefähr 50 Millionen Curie freigesetzt. In Tschernobyl konnte man den Reaktor noch abdichten. Das ist bei einem U-Boot-Reaktor nicht möglich. Den kann man nur mit dem ganzen Schiff versenken, und dann wird die gesamte Radioaktivität am Meeresboden frei.

Interview: Manfred Kriener