Ganz wie im richtigen Leben

■ Graf, Becker und die andere Upper Class regieren, der Mittelstand (Jelen, Kohde-Kilsch, Steeb etc. ausgedünnt / Chang auch auf Rasen dabei / Ausfälle: Sabatini, Mecir, Shriver, Connors

Wimbledon (taz) - Im Mixed in der ersten Reihe waren am Samstag gesetzt: Admiral Sir Derek Reffell and Lady Raffell, weiter hinten in der Setzliste folgten Field Marshal Sir Nigel Bagnall und auch der ehrenwerte His Honour Peter Mason. Die Ehrentribüne von Wimbledon mit ihren antiquierten Korbsesselchen, die hier ernsthaft royal box genannt wird, las sich beeindruckend wie jeden Tag: Ein Earl, zweimal eine Countess, und neben den oben genannten Top-Spielguckern ein Air Marshal, zwei Generals, dazu sechs simple Sirs, sieben Ladies und diverse Titellose als Qualifikanten.

Auch Fergie, die Andrew-Angetraute, war Anfang vergangener Woche schon da und zeigte sich volkstümelnd empört über die unverschämten Preise der in Wimbledon legendären „strawberries with cream“ (gut eine Mark pro Frucht).

Ebenso unverwechselbar königreichlich wie die topgesetzten Royal Boxer liest sich bei Turnierhalbzeit die Ergebnisliste: die Upperclass des Tennis wie Becker, Graf, Navratilova, Evert, Edberg, Lendl und Wilander regiert ungefährdet, viel Masse arbeitet bemüht und mühsam gegen die Großen.

Und die Mittelschicht wird immer dünner, ganz wie im richtigen britischen Leben: Reihenweise nämlich sind gesetzte Spieler der zweiten Kategorie schon rausgeflogen: gleich zu Anfang Chesnokov, Hlasek, Gilbert, Pernfors, auch zum Entsetzen seiner vielen Fans in Wimbledon der ewig junge Connors mit 36 Jahren. Am Donnerstag folgte Kevin Curren, Borissens erster Endspielgegner von '85, und der Geheimtip Mecir gegen den urgewaltigen Aufschlagarbeiter Zivojinovic aus Jugoslawien. Die gesetzten Damen Sabatini, Zvereva, Sloane, Garrison und Kelesi sind ebenfalls fertig.

Am Samstag, der Tag vor dem traditionellen Wimbledon -Ruhetag, an dem der oberste Chef-Gärtner Jim Thorn (siehe Interview taz vom 24.6.) endlich wieder in Ruhe Hand an das geschundene Grün legen konnte, wieder ein Tag der FavoritInnen - abgesehen von einer weiteren Mittelklasse -Frau: Die der Reagan-Bush-Wahlhelferin. Pam Shriver verabschiedete sich gegen US-Landsfrau Magers mit einem dramatischen 10:12 im dritten Satz und sinniert jetzt über ihr Karriereende.

Martina Navratilova, in der zweiten Runde mit Satzverlust, gewann im Graf-Tempo von 45 Minuten 6:0 und 6:3 gegen die Australierin Nicole Provis, die erst im zehnten Spiel erstmalig ihren Aufschlag durchbrachte, ein Erfolgserlebnis, das der leibhaftige britische Sportsgeist im Centre Court mit tosendem Applaus des Mitleids bedachte. Michael Chang, der in Paris solange nicht ernst genommen wurde, bis er plötzlich gewonnen hatte und den auf Wimbledons schnellem Rasen bis heute niemand auf seiner Rechnung hat, lag gegen den Holländer Michiel Schapers schon 1:5 im dritten Satz zurück, drehte noch alles auf 7:5 und siegte in einem Riesenspiel in vier Sätzen.

Kollege Hartplatzspezialist Mats Wilander, der in Wimbledon noch nie über das Viertelfinale hinauskam und zuletzt mehr als schwach spielte, hat überhaupt noch keinenSatz abgegeben und am Samstag gegen den Australier mit dem bedenk- lichen Namen Stoltenberg dreisätzig gesiegt. Gabriela Sabatini, die mit dem Kreuz eines Football-Cracks, gewann nach dem Einzelflop wenigstens an der Seite der westdeutschen Tennis -Domina Steffi Graf im Doppel: 6:2 und 6:2 gegen Holden/Pollard aus dem hiesigen Königreich.

Ansonsten beherrschen GB GB: Außer Graf und Becker haben die bundesdeutschen BallistikerInnen ausgespielt. Eric Jelen und Carl-Uwe Steeb machten es in fünf Sätzen wenigstens erfolgreich spannend. Zuletzt schied Claudia Kohde- Kilsch gegen Helena Sukova aus, Patrick Kühnen gegen Aron Krickstein, den nächsten Gegner von Boris Becker.

Er und Miss Graf gelten in England mehr denn je als die ganz großen Favoriten auf die Einzeltitel. Beide verloren noch keinen Satz, Becker siegte zuletzt glatt gegen den Ami Matuszewski und den Schweden Gustafsson, und die Briten lieben „The Wunderkind“ noch immer. Steffi Graf, die Grand -Slam-Verliererin 1989, war bei 36:10 Spielen noch keine zweieinhalb Stunden auf dem Platz. Nur die Natur scheint wie in Paris - die Titelverteidigerin stoppen zu können.

Bernd Müllender