Von der Perestroika überrollt

In einer Fernsehrede beschwört Gorbatschow die Einheit des Vielvölkerstaates UdSSR  ■ K O M M E N T A R E

Die Einschätzung, Gorbatschow hätte wieder einmal um den heißen Brei herumgeredet, wäre voreilig. Es ist schwer, die vielfachen Ansprüche der sowjetischen Nationen gerecht gegeneinander abzuwägen. Der usbekische Pogrom ist mit Sicherheit nicht der letzte gewesen.

Gemeinsam ist den ganzen Nationalitätenproblemen eine Geschichte der Unterdrückung und diese sie begründende nationale Denkform, nach der Völker wie Einzelindividuen fühlen und denken. Stalins Politik der Bestrafung ganzer Völker war nur eine besonders grausame staatliche Konsequenz dieser Denkform. Wie fast immer entsprachen und entsprechen sich die Kategorien der Unterdrücker und der Unterdrückten dabei spiegelbildlich. Unterdrückte konnten sich daher in der Sekunde ihrer Befreiung immer wieder in Unterdrücker verwandeln.

Das allgemeine Argument, die Zeit der Vielvölkerstaaten sei zu Ende, ist damit nicht widerlegt. Falsch ist jedoch die Behauptung, die Sowjetunion sei der letzte Vielvölkerstaat überhaupt, wie schon ein Blick auf Indien etwa oder die meisten afrikanischen Staaten zeigen wird. Die Frage stellt sich dann aber, warum der russischen Sprache nicht einmal in ihrem Herrschaftsbereich eine ähnliche Suprematie gelang wie der englischen und französischen im Weltmaßstab. Der Grund liegt in russischen Spezifika. Diese Kolonialmächte waren nicht nur mächtig, sondern auch reich und kulturell attraktiv. Trotz seiner Größe hatte Rußland immer mit innerer Armut und Unterdrückung zu kämpfen.

Angesichts der kulturellen Globalisierung wäre es vermessen, von der estnischen oder armenischen Sprache anderes zu erwarten als von der schwedischen, deutschen oder ungarischen: eine über die engeren Staatsgrenzen hinausreichende Bedeutung zu erlangen. Das Gedankenexperiment, die Gleichstellung der sowjetischen Nationen dadurch zu vollziehen, daß sich Englisch zur Staatssprache der Union wie im künftigen Europa entwickelt, erscheint realpolitisch abwegig, weil dem die sowjetischen Machtverhältnisse und alte koloniale Denkmuster widerspechen.

Vor allem aber auch sollte man die russische Dimension des Problems nicht unterschätzen. Der russische Nationalismus ist von der Perestroika überrollt worden und erst dabei, sich als mächtige politische Kraft zu formieren. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen haben daher noch eine Zukunft.

Erhard Stölting