POPULÄRE KULTUR

■ Radio 100 bastelt nach der Frequenzzuteilung an einem erweiterten Programm

Der Berliner soll morgens konfrontiert werden mit Schwulen-, Lesben- und Frauenthemen, mit Berichterstattung aus der sogenannten Dritten Welt, und eine völlig andere Sicht auf Kultur vermittelt bekommen“, sagt Werner Vogel, Nachrichten und Welt-am-Draht-Redakteur, und will damit gegen das morgendliche öffentlich-rechtliche Müsli aus Frühkommentar und Geistlichem Wort antreten.

Mit der Entscheidung des Kabelrats, dem linksalternativen Sender auf 103,4 MHz die ganze Frequenz zur Verfügung zu stellen, beginnt erst die Arbeit an einem neuen Programmkonzept, mit durchschnittlich drei Gremien und AGs, die wöchentlich zu durchhecheln sind. Was bisher - aus Angst vor Autonomieverlust - im kleinstaatlichen Baukastensystem fein säuberlich nach Politik und Kultur, Frauen- und schwulen sowie lesbischen Reservaten getrennt und oft genug aneinander vorbei funkte, könnte jetzt endlich sinnvoll zusammensenden. Zauberwort ist MoMa, ein Morgenmagazin von 7 bis 10 Uhr zur besten Hörer- und Werbeeinschaltzeit.

Logisch, daß alle Redaktionen darauf scharf sind. „Die Kernredaktion (höchstes redaktionelles Gremium) will jedoch, daß das MoMa ein gemeinsames Projekt aller bestehenden Redaktionen wird und das Gesamtprofil des Radios widerspiegelt“, meint Kulturredakteur Frank Szeimies. Ganz ähnlich klang das im Dezember 87, als Radio 100 mit dem Wechsel der Frequenz von 100,6 auf 103,4 MHz sein „aktuelles Magazin“ Welt am Draht zur Welt brachte. Bald wurde jedoch aus dem „gemeinsamen Projekt“ ein Stadtpolitikmagazin, das eine ausgesprochene Vorliebe für das Rezensieren von Pressekonferenzen entwickelte. Mit Kollaboration und Aufnahme von Kritik war es dabei nicht weit her.

Aufgrund dieser Erfahrungen, so Frank Szeimies, bestehe Konsens im Radio, das noch zu gebärende MoMa nicht zu einer „Metastase“ von Welt am Draht werden zu lassen. Auch Ilona Marenbach, Welt-am-Draht-Redakteurin, bestätigt, daß das Magazin von allen großen Redaktionen koordiniert konzipiert werden soll: „Die Situation ist heute anders. Sicher wird es bei dem neuen Magazin nicht Friede -Freude-Eierkuchen geben. Aber das MoMa stellt schon aufgrund der Tageszeit ganz andere Anforderungen, und Welt am Draht stellt etwas dar, woran man sich abarbeiten kann

-im positiven wie im negativen Sinne.“ Was das heißt, erläutert sie so: „Die Musik soll völlig anders werden, es soll kurze Informationen und Unterhaltung geben.“ Die Redakteurin, die man sonst mit Kultur jagen konnte, will plötzlich auch verstärkt Kulturthemen: „aber populäre Kultur, also nicht Oper oder Schillertheater“. Ein ganz anderes Kultur- und Politikverständnis klingt da bei Silvia Bruch, Dissonanzen-Redakteurin an: „Alle Berichte, auch und gerade über Politik, müssen ein hohes und literarisches Niveau haben.“ Und Kulturredakteur Frank Szeimies setzt noch eins drauf: „Es gibt keine Politikthemen, keine Frauen- und schwul-lesbischen Themen, sondern es gibt Frauenpolitik und

-kultur, Schwulen- und Lesbenpolitik und -kultur und Politikpolitik und Politikkultur, man kann das überhaupt nicht trennen.“

Das sieht nicht gerade nach Übereinstimmung aus: „Ganz sicher wird es inhaltliche Differenzen geben, aber ich verspreche mir aus den verschiedenen Blickpunkten eine produktive Auseinandersetzung - auch besser als früher“, sagt der Welt-am-Draht-Redakteur Werner Vogel, der noch Anfang des Jahres maßgeblich an der gewaltsamen Liquidierung der viertelstündigen täglichen Internews-Sendung und damit auch am Abgang der Redaktion beteiligt war.

Ab September soll aber alles anders werden, zum Beispiel auch mit halbstündlichen Kurzmeldungen innerhalb der Tagesmusikblöcke. Die „unterschiedlichen Blickpunkte“ werden sich wohl auch eher an den zu verteilenden Pfründen, den elf angestrebten Einheitslohnstellen, entzünden. Während Ilona Marenbach sich verstärkt Hilfe in Form von neuen qualifizierten Mitarbeitern erhofft, setzt Frank Szeimies auf die gesammelten kollektiven Erfahrungen: „Nur Kollektive sind fähig, diese immense Arbeitsbelastung zu verkraften, deshalb müssen alle an einem Strang ziehen.“ Das schlösse gerade deshalb nicht aus, neue freie Mitarbeiter vorrangig zu bezahlen und nicht allein die, die im Radio sitzen.

Auch das MoMa soll kollektiv mit vier bis fünf RedakteurInnen arbeiten, die aber auch weiterhin für das abendliche herkömmliche Radio-100-Programm zur Verfügung stehen sollen. Was morgens nur angerissen werden kann, soll abends in den bisherigen „Spartensendungen“ vertieft werden. Die Kulturredaktion stellt sich neue Serviceleistungen vor (Vernissagentips zum Gratisabsahnen etc.) und Streitgespräche mit der Stadtprominenz. Die Dissonanzen wollen ihre aktuelle Berichterstattung ganz in die Magazine verlegen und im Abendprogramm Schwerpunktsendungen mit Studiodiskussionen machen. „Vielleicht kriegen wir durch die Erweiterung auch jetzt eher die Frauen ins Studio, die sich bisher geziert haben“, hofft Dissonanzen-Redakteurin Silvia Bruch. „Bisher mußten wir geradezu Zuckerspuren legen.“ Denn von 16 bis 23 Uhr soll es weiterhin welt-am -drahten, eldoranzen, dissonanzen und kunstrauschen. Wie das alles funktionieren soll bei einer bisher relativ dünnen Personaldecke bleibt das Geheimnis der Baguette-Frau an der Ecke und wird von der tatsächlichen Kooperationsfähigkeit der MitarbeiterInnen abhängen.

DoRoh