Eine fremdartige und seltsame Landschaft in Europa

■ Der Spreewald zwischen Tourismus, industriellem Fortschritt und landschaftlicher Idylle / Urlandschaft aus Inseln, Sümpfen und Fließen / Folkloristische Pflege der Kultur der Sorben, der einzigen nationalen Minderheit der DDR

Später nachmittag im Garten vom Wirtshaus Wotschofska: Unter lautem Gröhlen und Gelalle legen drei vollbesetzte Kähne ab und nehmen Kurs auf ihren Hafen in Lübbenau. An Bord sind Krankenschwestern und -pfleger aus einem Ost-Berliner Krankenhaus - das Ende eines Betriebsausflugs. So geht es hier häufig zu, denn der Spreewald ist bei den „Hauptstädtern“ - und neuerdings auch wieder bei den „Nichthauptstädtern“ aus dem Westteil der Stadt - eines der beliebtesten Ziele für einen Tagesausflug.

Während ein Kellner Dutzende leerer Biergläser und Whisky -Kirsch-Fusel-Flaschen abräumt und dabei mit spöttischer Verdrießlichkeit seinen Kollegen zuruft, daß er hoffentlich niemals in jenem Krankenhaus seinen Gästen von vorhin in die Hände fallen möge, ist aus dem Wald noch etwas vom „Rhein so schön“ zu hören. Dann wird es ruhig. Es ist eine Feierabendruhe, die friedlich stimmt. Sie könnte sogar beinahe darüber hinwegtrösten, daß aus dem ehemals feinen Waldhotel Wotschofska, das früher wegen seiner vorzüglichen Küche, eigener Jagd und Fischerei einen guten Namen hatte, eine bessere Spelunke geworden ist. Drinnen ein trübseliger Saal, draußen primitiv zusammengehämmertes Holzmobiliar, Essen und Trinken auf niedrigstem HO-Niveau.

Das malerisch an einem kleinen Hafen gelegene Blockhaus mitten im Spreewald dient seit fast hundert Jahren dem Fremdenverkehr. 1894 wurde aus dem alten Försterhaus eine Ausflugsgaststätte. Weil sie jedoch nur mit dem Kahn zu erreichen war, legten die Bürger von Lübbenau 1911 noch einen Wanderweg an. Drei Kilometer lang führt der Weg vorbei an weiten Wiesen und an einem ehemaligen Freibad, dann geht es an Fließen entlang und über Holzbrücken mitten hinein in den urwaldartigen Wald aus Erlen und Birken. Eine fremdartige, eine seltsame Landschaft - so etwas gibt es nicht oft in Europa. Da lohnt es sich, immer wieder stehenzubleiben, um zu lauschen und zu beobachten: Das Rufen des Kuckucks, das Rascheln der Ringelnattern, Libellen, Kröten, das träge durch den hohen Unterwuchs fließende Wasser der Spreearme.

Ein Labyrinth aus

Wald und Wasser

So sah es einmal fast überall in dem Land aus, das später die Provinz Brandenburg wurde. Doch nur hier im Oberspreewald ist diese Urlandschaft erhalten. Die Spree, der bei Cottbus die Puste ausgeht, verzweigt sich auf ihrem weiten Weg durch das Baruther-Glogauer-Urstromtal nach Berlin in ein riesiges Netz aus Flußarmen und Fließen. Ein Labyrinth aus Wald und Wasser, aus Inseln, Sümpfen und Fließen ist daraus entstanden.

Obwohl bereits der kleine Spaziergang von Lübbenau nach Wotschofska - die seit sechzig Jahren geplante Verlängerung des Weges in den Hochwald steht noch aus - mit dieser Landschaft vertraut macht, erschließt sich die ganze Schönheit des Spreewalds erst vom Wasser aus.

Fährhäfen gibt es in Lübbenau und Burg, in Lübben und Schlepzig. Am Wochenende ist Rummelplatzgedränge, und auch während der Woche strömen im Sommer die Ausflügler zu den Anlegestellen. In Lübbenau bieten die Kahnfährleute Rundfahrten von zwei, vier, ja sogar von acht Stunden an. Das Städtchen schmückt sich mit dem Namen „Tor zum Spreewald“, doch „Touristenumschlaghafen“ müßte es zutreffend heißen. Rund 24.000 Einwohner hat der Ort, früher eine typische Ackerbürgerstadt: Leinen wurde hier gewebt, etwas Bier gebraut. Das Stadtbild hat seinen provinziellen Charakter bewahrt. Die Postsäule neben der Kirche, ein paar kleine Geschäfte, bröckelnde Fassaden, Gartenzwerge auf der Fensterbank - nichts Auffälliges, alles etwas öde. Manchmal ist am Wochenende „Jugendtanz“ im „Deutschen Haus“. Dann sind weit über hundert aufgeputzte Jugendliche unterwegs und suchen Abwechslung vom Alltag im einsamen Spreewald oder von der Arbeit in den nahegelegenen Braunkohlekraftwerken Lübbenau und Vetschau.

Dann ist da allerdings noch das ehemalige Schloß der Grafen von Lynar. 1974 wurden im Schloßbezirk Spuren einer slawischen Wallanlage gefunden. Vor rund tausend Jahren haben hier demnach bereits Sorben gelebt. Das Schloß wurde zwischen 1817 und 1839 nach klassizistisch-romantischer Verschnittmanier umgebaut: Mißlungene Architektur und das Zuhause des „Zentralen Organisations- und Abrechnungszentrums des Binnenhandels“. In die ehemalige Kanzlei und in die Orangerie dagegen ist das Spreewald -Museum eingezogen, eine Orts- und Regionalchronologie nach traditionellem Geschichtsbildmuster: vom Steinzeitler zum Bauern, vom Proletarier zum Braunkohlekraftwerks -Bestarbeiter. Der alte Museumswärter gibt gerne Auskunft über die historischen Werkzeuge, die kostbaren Porzellane und über die Prunkstücke der Sammlung: die Festkleider und Trachten der Sorben.

Sauregurkengegend

Anekdoten und Witzchen erzählen auch gerne jene rund 300 Männer und Frauen der Genossenschaft der Kahnfährleute, während sie mit langen Rudern ihre Fahrgäste über das Wasser befördern. Geschickt und scheinbar ohne Anstrengung rudern sie auf den Kanälen und Fließen vorbei an Wiesen und Weiden, zwischen den Inseln immer tiefer in den Wald hinein und dann wieder vorbei an großen Anbauflächen für Meerrettich, Sellerie und Kürbis. Im Spätsommer sitzen oft AnwohnerInnen am Ufer und bieten saure Gurken an - eine Spezialität dieser Gegend. Vorbei geht die Fahrt an Blockhäusern mit schönen Gärten, in denen Hühner scharren. Kaum ein Haus, dessen Giebel an dem mit Schilf gedeckten Dach nicht der Schlangenkönig, eine sorbische Sagengestalt, schmückt.

Das ruhige, gleichmäßige Gleiten des Kahns und die gleichzeitige Begegnung mit dieser stillen Landschaft von Wasser und Wald machen den ganz besonderen, einzigartigen Reiz einer Fahrt durch den Spreewald aus. Die Natur schirmt ab vor den Städten und Industriegebieten in der Umgebung. Die Stille überträgt sich und wirkt, darin sind sich viele Spreewaldbesucher einig, beruhigend - im eigentlichen Sinne dieses Wortes.

Massentourismus

im Lagunendorf

Spätestens in Lehde jedoch ist es mit der Ruhe vorbei. Das Lagunendorf ist eine Attraktion mit allen Vor- und Nachteilen. Die Nachteile: Das alte Gasthaus „Zum fröhlichen Hecht“ ist dem Neubau einer zweckmäßigen „gastronomischen Einrichtung“ zum Oper gefallen. Für Massentourismus gibt es hier Massen-Self-service auf der Terrasse. „Broiler“, die Tiermißhandlung vermuten lassen, lauwarme Würste, Chemielimonade. Drinnen sind alle Plätze für Reisegruppen reserviert. Der organisierte Tourismus fällt in der Regel nur im Sommer ein; im Herbst und Winter - der Spreewald ist dann nicht weniger schön - ist der „Fröhliche Hecht“ wieder eine bescheiden-freundliche Gaststätte, die Forelle und Hecht als Spezialitäten anbietet.

Lehdes Einwohner sind über das saisonale Touristenabfütterungsobjekt auch nicht glücklich. Wo können sie jetzt so wie früher gemütlich ihr Bier trinken? Einen von ihnen hattes es letztens ganz besonders hart getroffen. „K... F... aus Lehde“, hieß es da auf einen Zettel an der Tür vom „Hecht“, „hat vom 15.Oktober 1988 bis 15.März 1989 auf Beschluß des Gaststättenkollektivs Lokalverbot im 'Hecht‘ und im 'Cafe Venedig‘.“ Für alle Besucher ein prima Spaß, für den mit vollem Namen Angeprangerten eine bittere Strafe, denn weit und breit gibt es keine andere Schänke. Bis Lübbenau zu Fuß ist schon ein Stück zu gehen. Diese Straße gab es übrigens nicht immer, da war ganz Lehde nur mit dem Kahn zu erreichen. Für viele Gehöfte im Spreewald gilt dies bis heute: Post, Lebensmittel, Baumaterial - alles kommt auf dem Wasserweg, und so gelangt auch das Vieh auf seine Weiden.

Kurioserweise tummelt sich der Tourismus in Lehde fast nur an der „gastronomischen Einrichtung“. Ein paar Schritte hinter dem „Objekt“ im Dorf ist es wieder still und fremdartig: alte Blockhäuser, ein kleiner „Konsum„-Laden, und auf dem Dach der freiwilligen Feuerwehr klappert wie in alten Zeiten ein Storch aus seinem Nest.

Brautpaare schliefen

allein im Heu

Auf der anderen Seite des Fließes ist ein Freilandmuseum angelegt worden. Aus verschiedenen Orten des Oberspreewalds hierher versetzte Gehöfte, Ställe und Kahnschuppen, Möbel und allerlei, was zu Haus und Hof dazugehört, vermitteln einen Eindruck von dem meist harten und ärmlichen Leben der Sorben. In der Stube gleich im ersten Haus wohnten einmal drei Generationen zusammen. Das war so üblich. Üblich war auch, daß alle gemeinsam in einem Bett schliefen. Nur den Brautpaaren wurde zugestanden, die ersten vier Wochen allein im Heu zu verbringen.

Von der Zwischenstation Lehde geht die Kahnfahrt zurück nach Lübbenau. Oder weiter nach Wotschofska oder in den einsamen Hochwald. Ein kaum bekanntes Idyll ist der Spreewald schon lange nicht mehr. Der „Fortschritt“ hat die schlimmste Ärmlichkeit und Rückständigkeit überwunden, er hat den Tourismus und die Kraftwerksschwefelschleudern gebracht. Ein moderner Freizeitpark ist deswegen aus dem Spreewald nicht geworden. Abseits von touristischen Trampelpfaden ist sogar noch ein wenig Abenteuer dabei.

Wolfgang Kramer