Die moderne Verkäuferin trägt Haltungsschäden

■ Schauplatz Kaufhaus: Verkäuferinnen stehen sich die Beine in den Bauch / Die Gewerkschaft bemängelt seit geraumer Zeit die unerträglichen Arbeitsbedingungen, doch Abhilfe ist nicht in Sicht

Schauplatz: Kaufhaus. Auf der Suche nach der omnipotenten Verkäuferin sah sich schon so mancher überfordert, sie unter all den adrett gekleideten Damen auszumachen, die zwischen Wühltischen und Regalen herumwuseln. Ein guter Rat: Die Verkäuferin ist im Zweifelsfall immer diejenige, die von einem Fuß auf den anderen tritt. Die Beine tun ihr weh. Der Grund: Beschäftigte im Einzelhandel - noch immer eine vornehmlich weibliche Domäne - stehen täglich stundenlang.

„Am besten, man wühlt ein bißchen rum“, sagt Inge W. (49), Modeschmuckverkäuferin bei „Quelle“. Und wahrhaftig: man sieht Verkäuferinnen fast immer in reger Aktivität - sei es beim monotonen Auszeichnen oder beim pflichtbewußten Sortieren. Andernfalls stehen sie herum - mit wachsendem Auge nach potentiellen „Opfern“ Ausschau haltend und stets auf dem Sprung, dem Kundenkönig helfend zur Seite zu eilen.

Maria K. (26), Ex-Tresenfrau einer Croissanterie im Berliner Ku'damm-Karree, hatte es nach einem halben Jahr gründlich satt, sich weiterhin die Beine in den Bauch zu stehen: „Es war furchtbar anstrengend“, resümiert sie lapidar. „Sich setzen war nicht. Du konntest zwar rumnaschen, aber selbst das nur im Stehen.“

Inge W. dagegen steht nach wie vor ihre acht Stunden durch. Und mit ihr stehen die Kolleginnen - in den Kaufhäusern rund 70 Prozent, hinter den Verkaufstresen etwa 80 Prozent der Arbeitszeit. Die Big-Bosse, so die 49jährige, sähen es nun mal gar nicht gern, wenn das Personal sich im Sitzen ausruhe. Für die Aussteigerin Maria K. ist diese Auflage von oben eine psychologisch durchdachte Marketingstrategie: „Du sollst eben immer für den Kunden präsent sein.“ Überdies läßt sich nach den Vorstellungen der Obrigkeiten der Kampf gegen den Ladendiebstahl im Sitzen nur schwerlich aufnehmen.

Übelwollende mögen an dieser Stelle zu dem Schluß gelangen, daß die wahren Kriminellen eher in den Chefetagen säßen. Deren Vorschriften sind es schließlich, welche die Angestellten ihrer Gesundheit berauben. Die Gewerkschaft für Handel, Banken und Versicherungen (HBV) bemängelt schon seit geraumer Zeit die untragbaren Belastungen, denen Verkäuferinnen ausgesetzt sind. Das Düsseldorfer HBV-Projekt GESA (Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit für ArbeitnehmerInnen im Groß- und Einzelhandel) hat einige der auftretenden Beschwerden aufgelistet, die stundenlanges Stehen mit sich bringt: geschwollene, juckende Beine, Wadenkrämpfe und schmerzende Füße, Krampfadern, Stoffwechselstörungen, Venenerkrankungen und Verkrümmungen der Wirbelsäule. Darüber hinaus seien, wie der HBV des öfteren zu Ohren kommt, schwangere Verkäuferinnen besonders anfällig für Frühgeburten.

Angesichts einer solchen Leidensstafette sollte man annehmen, daß die Fehlzeit bei Verkäuferinnen weit verbreitet sei. Dem ist nicht so. Der Grund: Die Angst, den Job zu verlieren, seufzt's von seiten der HBV, hindere viele der Betroffenen daran, einen Arzt zu konsultieren. Krankheitsbedingte Abwesenheit nämlich sei ein beliebter Kündigungsgrund - inoffiziell, versteht sich. Die Gewerkschaft will das Problem bei der Wurzel packen. Sie plädiert für Klappsitze und Stehhilfen, die jeder Verkäuferin die Möglichkeit geben sollen, ihre geplagten Beine zu entlasten - und somit die Gesundheitsrisiken einzudämmen. Laut GESA sind momentan die Sitzgelegenheiten in Kaufhäusern, Supermärkten und Boutiquen mehr als dürftig gesät. Trittleitern oder umgedrehte Papierkörbe dienen häufig als Notbehelfe. Die ehemalige Croissantverkäuferin Maria K. kann ein Lied davon singen: „Wenn man sich schon mal auf den Kühlschrank gesetzt hatte - die einzige Sitzmöglichkeit hinterm Tresen -, dann war der Chef auch immer gleich sehr erbost.“ Seine Begründung: Was sollen die Kunden denken!

Aber Marina B. (24), Verkaufskraft bei „Werdin“, weiß von verständnisvollen Kunden zu berichten: „Wir haben hier vorwiegend junges Publikum. Und das stört sich eigentlich nicht dran.“ Die 24jährige ist's zufrieden, wenngleich auch ihr nach einem Neuneinhalb-Stunden-Tag ganz schön die Beine wehtun. Auch die Bandscheiben seien nicht mehr das, was sie mal waren. Dennoch: Die Erlaubnis von oben, „mal eben nach hinten zu gehen und eine zu rauchen“, macht für Marina B. die Strapazen wieder wett: „Unsere Chefin ist tolerant. Die sieht's nicht so eng.“ Aber im Verkaufsraum kann man niemanden sitzen sehen.

Die Modeschmuckverkäuferin Inge W. hat ihre Bedenken: „Das sieht ja auch wirklich nicht schön aus, nicht?“ Ihr Schönheitsideal scheint zu beinhalten: Die moderne Verkäuferin trägt auch in dieser Saison wieder allerlei Haltungsschäden. Dazu passend das obligatorische Accessoir ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen.

Heidi Wentsch