Kunst über Bücher

■ Aus der South Bronx nach Köln: Tim Rollins + Kids Of Survival

Drehbuch für Kitschfilm: Ein weißer Künstler geht als Lehrer in eine Mittelstufenschule in der South Bronx. In seine Klasse kommen die Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben, mit anderen und sich. Er liest ihnen aus Büchern vor, und was ihnen dazu einfällt, dürfen sie malen. Eines Tages versteht ein Elfjähriger, Carlito, die Anweisung des Lehrers nicht und malt direkt auf eine Buchseite aus Orwells 1984. Am nächsten Tag wird der ganze Roman auf einen Untergrund geklebt, Seite für Seite, und übermalt. Es entsteht ein Workshop. Ein Atelier in der Nachbarschaft wird gemietet. Kaum ist das erste Bild fertig, wird der Künstler-Lehrer, Tom heißt er, zu einer großen Ausstellung in Manhattan eingeladen. Neben dem Bild der Kids hängt ein Warhol. Alle sind begeistert. Der Kunstmarkt beißt an. Das viele Geld, das nun reinkommt, fließt in einen Fonds für eine private Schule...

Dies ist, verkürzt, die Geschichte von Tim Rollins + K.O.S. (Kids Of Survival). Die Bilder von Rollins und seinen Kids gelegentlich bis zu dreißig - sind in der Kölner Galerie Johnen und Schöttle zu sehen. Tim Rollins und K.O.S. arbeiten immer „über Bücher“. Prächtig und wie von einer Hand: Amerika, die 298 Seiten der englischen Fassung von Kafkas Erstlingsroman auf Leinwand geklebt und bemalt mit einem Dschungel goldener Formen, die an alles und nichts erinnern; an Flügel und Schläuche, Putenmägen und Fußleisten. Und immer wieder Öffnungen, Schalltrichter vielleicht, und dann, beim Zurücktreten erst, sieht man es: „Alle“ Formen münden in diese Trichter, wie Posaunen und Trompeten. „Viele Leute werden zum Schweigen gebracht, weil sie keine zu ihnen passende Stimme finden“, sagt Rollins in einem Interview. Es hat auch ein paar Jahre gedauert, bis er und die Kids herausfanden, in welches Horn gut tuten war.

Zunächst, sagt Rollins, sei er „ein Opfer meiner eigenen guten Absichten“ gewesen. Er und mit ihm die Kids hätten die South Bronx mit dem Blick von Außenstehenden gesehen, so wie die „vorherrschende Ideologie“ sie sehe: „Drogen, Schießereien, Elend, Brände, düstere Farben und cartoonmäßige Charaktere.“ Das habe auch daran gelegen, daß er die Künstler der Haßtradition bewundere: Heartfield und Grosz. Einige Plakate und Buchtitel von Heartfield hat Rollins in der Kölner Galerie auch gleich mit ausgestellt, „weil sie in Deutschland so wenig gezeigt werden“ (Statement, kolportiert von der Galerie).

Später wurde klar, daß Rollins‘ politischer Anspruch in den Bildmotiven keinen Niederschlag finden würde. „In der Kunst können wir anstelle des Guten das Schlechte setzen und andersherum“, sagt Jose Burgos, einer der Kids. Die Formen, die die Gruppe dann entwickelt hat, hatten eher zu tun mit „Phantasie, Erotizismus, Religion und Schönheit“ (Rollins).

Es ist schon merkwürdig, wie in den Kafka-Amerika -Bildern - die Gruppe malt immer neue - die individuellen Phantasien zusammengeschmolzen sind zu einem kollektiven, bizarren Vokabular von Formen. Für andere Buchprojekte wurden profanere Lösungen gewählt: Auf dem Animal-Farm -Text erscheint unterhalb eines Holzzauns Helmut Kohl als stupider Bulle.

Über den Umweg der Übermalungen kamen dann die angeblich analphabetischen Problemjugendlichen auch zur Literatur. Sie lasen Carrolls Alice im Wunderland, Ray Bradburys Fahrenheit 451 und Mevilles Moby Dick. Sie wollten kennen, was sie unlesbar machten. Und jedes Buch erhielt „seine“ Ikonographie: Animal Farm ist nur literarischer Horizont für politische Karikatur; Alice wurde in schwarz, später in blutrot flächendeckend zugemalt (deutliche Referenz an die abstrakten Amerikaner der Fünfziger, Newman und Reinhardt); Amerika wurde zur Spielwiese jener bizarren Formen, deren Trichter übrigens schwarz ausgemalt sind - und diese schwarzen Ovale geben dem Bild seinen organischen Grundrhythmus. Dagegen bilden die Buchseiten - so verschieden durch Absätze, Kapitelenden, Dialoge - eine flirrende Matrix, auf der sich das Gemalte ereignet: mit höchster Leichtigkeit, in phantastisch gesetzten Proportionen.

Daß der Kunstmarkt die Kids nun weiter trägt als bis zum Überleben, ist zwar ein bißchen märchenhaft, was die Besetzung des „Films“ angeht, aber dramaturgisch plausibel: Sie malen gut, und sie haben sich „das Buch“ auf jene Weise zurückerobert, auf welche es der Gesellschaft verloren zu gehen droht: als gleichförmiges magisches Etwas, das Kraft braucht und Kraft freisetzt. „Ironischerweise“, sagt Lehrer Rollins, der sich mit den Kids als Künstler besser findet als vorher ohne sie, „ist es die Langeweile der physischen Form des Buchs, die unsere Vorstellung antreibt, Bild zu werden.“ Sie wird!

Ulf Erdmann Ziegler

Tim Rollins + K.O.S. (sowie John Heartfield) in der Galerie Johnen und Schöttle, Kamekestr. 21, Köln, Dienstag bis Freitag 10 bis 13 und 15 bis 18 Uhr, Samstag 10 bis 14 Uhr. Bis zum 22. Juli 1989.