Teufelskreis auch nach rundem Tisch

Polens Wirtschaft vor dem Fiasko / Faktischer Bankrott der Staatsfinanzen, anstehende Preiserhöhungen Zusammenbruch des Lebensmittelmarktes  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Die Lage, so heißt es in Warschau, sei ernster und angespannter als vor den Auguststreiks 1980. Seit Wochen drängen sich immer mehr Menschen in den Schlangen vor den immer leerer werdenden Lebensmittelgeschäften der Hauptstadt. Das einzige, was dort noch zu haben ist, sind Fleischerhaken und einige Fettprodukte. Wie Regierungssprecher Rykowski bekanntgab, hat nun auch die Regierung eingesehen, daß die Fleischerzeugung nicht mehr ausreicht, selbst den Grundbedarf, der subventioniert gegen Rationierungskarten verkauft wird, sicherzustellen. Die Karten für diesen Monat wurden in den folgenden Monat hinein verlängert, doch eine Besserung ist nicht in Sicht: Im Fernsehen erfuhren die potentiellen Verbraucher inzwischen, daß etwa die Warschauer Fleischfabriken in den letzten Tagen kein einziges Stück Vieh mehr ankaufen konnten. Die Bauern halten in Erwartung auf höhere Preise ihre Lieferungen zurück, denn die staatlichen Ankaufpreise für Fleisch decken nicht einmal mehr die Selbstkosten der Landwirte. Bisher waren nur Gemüse und Obst zu freien Preisen verkauft worden, der Großteil der Fleischprodukte unterliegt jedoch Höchstpreisen und ist rationiert, also für die Bauern unrentabel. Aus diesem Grund auch ist die Zahl der Rinder und Schweine in den letzten Jahren in Polen dauernd zurückgegangen.

Bei den Gesprächen am runden Tisch einigte man sich daher darauf, auch in der Lebensmittelbranche Marktmechanismen einzuführen , was allerdings zu Preissteigerungen von bis zu 300 Prozent führen kann. Die zugleich vereinbarte Lohnindizierung von achtzig Prozent gleich dies nicht aus, da besonders bei Familien mit geringem Einkommen der Prozentsatz der Ausgaben für Grundnahrungsmittel überdurchschnittlich hoch ist, gemessen am Gesamtfamilienbudget. Daher sehen die Vorschläge des Binnenhandelsministeriums auch vor, die Fleischkarten sozusagen aufzukaufen, zu Preisen, die es den Konsumenten dann ermöglichen, die bisher auf Karten erhaltene Mange Fleisch auf dem freien Markt einzukaufen. Allerdings wäre dieses sogenannte „heiße Geld“, das durch eine entsprechende Warenmenge nicht gedeckt wäre und somit die Inflation nur weiter anheizen würde.

Schon jetzt deckt Polens Regierung ihre Ausgaben zum großen Teil mit Hilfe der Notenpresse: Das Staatsbudget wurde gesetzeswidrig und ohne Zustimmung des Sejm bereits um eine Billion Zloty (ca. eine halbe Milliarde DM) überzogen. Das Erreichen einer dreistelligen Inflationsrate in diesem Jahr ist damit so gut wie sicher. Im Falle der Preisreform auf dem Lebensmittelmarkt ist dann auch nur bedingt mit einer Erhöhung der Lieferungen von seiten der Landwirte zu rechnen, da die Inflation die Erhöhung der Ankaufpreise sofort wieder zunichte macht, zum Beispiel durch die Preiserhöhung bei landwirtschaftlichen Maschinen. Angesichts dieses Teufelskreises scheint eine Reform des Lebensmittelmarktes nur möglich bei gleichzeitiger Senkung des Lebensstandards der Verbraucher. Gerade dies ist aber unter den derzeitigen politischen Bedingungen nahezu ausgeschlossen. Sowohl die offiziellen Gewerkschaften OPZZ als auch Solidarnosc haben in entsprechenden Erklärungen klargemacht, daß sie dafür nicht zu haben sind. Bereits die jetzigen Preiserhöhungen bei Benzin, Tabak und Alkohol sind auf heftige Kritik bei den Gewerkschaften gestoßen. Lohn und Preisstopp wäre keine Lösung, da in vielen Bereichen die immer noch bestehenden irrationalen Preisgefüge weiter festgeschrieben würden, diese aber sind in vielen Fällen dafür veantwortlich, daß etwa im letzten Jahr, ganz entgegen aller Bekenntnisse zu Wirtschaftsreform und mehr Marktwirtschaft, die Steuernachlässe und Subventionen absolut stärker gestiegen sind als die Steuern selbst und die staatliche Finanzkrise verschärft haben.

Die Regierung hat ihre Vorschläge zur Reform des Lebensmittelmarktes nun an die Gewerkschafsten verschickt, die darauf innerhalb eines Monats antworten müssen. Bisher geplant war die Einführung von Marktmechanismen und die einhergehenden Preiserhöhungen für Anfang August. Schon jetzt ist sicher, daß dies die entscheidende Kraftprobe für die neue Regierung sein wird. Polens inoffizielle Börse hat bereits reagiert: mit haarsträubenden Wechselkurssprüngen. Innerhalb weniger Tage schoß der Dollar zuerst von 4.500 Zloty auf 6.700, anschließend fiel er wieder auf 4.300 zurück. Die Bevölkerung glaube nicht, meinte ein Kommentator im Fernsehen, daß es gelingen werde, eine starke, reformfähige Regierung zustandezubringen. Doch selbst wenn das gelingt, auf Unterstützung wird sie kaum rechnen können: Die Einführung eines freien Marktes unter den Bedingungen einer Mangelwirtschaft bringt zunächst einmal ausschließlich Härten mit sich. Selbst wenn aufgrund der Preiserhöhungen die Bauern mehr Vieh produzieren - die Zahl der Schweine und Rinder wird erst dann entscheidend steigen, wenn die Tiere herangewachsen sind. Bis dahin wird es nicht mehr Fleisch geben als bisher, wohl aber zu wesentlich höheren Preisen.

Der „Schweinezyklus“ gilt auch hier. Um diese Übergangsphase mit sozialen Maßnahmen und Subventionen für die Verbraucher auszugleichen, hat die Regierung aber kein Geld. Spekulationen über eine bevorstehende Währungsreform sind daher immer häufiger zu hören und führen zu noch schnellerer Flucht in konvertible Währungen. Während sich Inflation und Konjunkturrückgang langsam zu einer Stagflation hochschaukeln, sprechen immer mehr davon, daß man diesen gordischen Knoten wohl nur mit dem Schwert durchhauen könne: „Daß wir morgen früh aufstehen und wieder die Panzer in den Straßen stehen.“

Klaus Bachmann