Keine Barmherzigkeit

■ Wegen Nötigung stand gestern eine 24jährige Theologiestudentin der Kirchlichen Hochschule vor Gericht / Professor hatte nach Vorlesungsblockade Anzeige erstattet

„Allein schon aus Höflichkeit hätte sie aufstehen müssen“, behauptet der Zeuge. Die Angeklagte jedoch blieb sitzen und wurde deshalb der Nötigung für schuldig befunden. Vor dem Amtsgericht Tiergarten wurde gestern wieder in Sachen Hochschulstreik gerichtet. Angeklagt war die 24jährige Theologiestudentin Judith H., die im zwölften Semester an der Kirchlichen Hochschule (KiHo) studiert. Sie hatte am 9.Dezember zusammen mit anderen StudentInnen die Kirchengeschichte-Vorlesung von Professor Ulrich Wickert blockiert. Der Professor, der die Studentin von der gemeinsamen Gremienarbeit im Hochschulrat der KiHo kannte, erstattete Anzeige wegen Nötigung. Als einzige der rund 550 am Streik beteiligten KiHo-Studenten mußte Judith H. nun vor Gericht.

Sie habe vor dem Hörsaal, in dem Wickert eine Vorlesung zur Kirchengeschichte halten wollte, auf einem Tisch gesessen, erzählt Judith H. Der Professor sei sofort auf sie zugekommen. „Sind Sie sich bewußt, daß Sie hier Terror ausüben?“ habe er gesagt, und: „Wissen Sie, daß ich Sie anzeigen kann?“ Dann sei er wieder verschwunden, ohne sie zum Verlassen der Barrikade aufgefordert zu haben.

Von einer „gewalttätigen Behinderung“ spricht dagegen der Hochschullehrer Wickert. Der 62jährige, der der Angeklagten vor dem Prozeß höflich die Tür zum Gerichtssaal aufgehalten hatte, bedauert, daß man sich nicht verstehen konnte. Er habe jedoch gegen die Studentin vorgehen müssen, da sie ihn an der Ausübung seiner Pflicht gehindert habe. „Ein solches Laisser-faire konnte ich nicht durchgehen lassen“, erklärt Wickert, der Anfang der siebziger Jahre den Rücktritt des damaligen Bischofs Scharf forderte, weil dieser Ulrike Meinhof im Gefängnis besucht hatte.

Andere Kollegen hätten zwar „aus falsch verstandener christlicher Barmherzigkeit“ nach dem Streik auf Anzeigen verzichtet, er jedoch könne diesen „unsittlichen Vorfall“ nicht billigen, vor allem, da man „die Mißstände, die an anderen Hochschulen herrschen, bei uns nicht finden konnte“. Auch wenn die Beweggründe der Angeklagten vertretbar seien, meinte dagegen Richter Klemp, so hätte sie sich doch nicht mit dem Recht des Stärkeren durchsetzen dürfen. Da jedoch die Vorgänge an den anderen Hochschulen „bei weitem rabiater und aggressiver“ gewesen seien und die Angeklagte nicht den Eindruck mache, daß sie zu Gewalttaten neige, was eventuell mit dem Studium der Theologie zusammenhänge, wurde sie schließlich nur verwarnt. Gleichzeitig wurde eine Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen a 25 Mark bestimmt, die zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wird. Judith H. muß außerdem die Prozeßkosten bezahlen.

-guth

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