Freiheit und Gleichheit

■ Liberte und Egalite - Französische Kunst im Essener Folkwangmuseum

Allein, es fehlt die Brüderlichkeit. Den französischen Künstlern ist sie im internationalen Vergleich, aber auch in bezug zu englischer, italienischer und deutscher Kunst seit Jahrzehnten versagt. Deshalb hat Erich Franz, der Initiator der Ausstellung französischer Gegenwartskunst im Essener Museum Folkwang, die drei Leitbegriffe der französischen Revolution um die Brüderlichkeit beschnitten. Etwas, das nicht besteht, scheint auch als Forderung im Titel einer Ausstellung zu kühn, um unangefochten formuliert zu werden. Warum aber das Paar „Liberte & Egalite“ als Motto übriggeblieben ist, mag eher der werbestrategischen Überlegung, mit den Reizworten mehr Publikum anzulocken, entsprungen zu sein als einer wohlüberlegten und treffenden Titulierung der Ausstellung. Denn - und da war es nur noch eins der so magischen Worte - das zentrale Thema in Essen ist die Gleichheit innerhalb der künstlerischen Arbeit: die Wiederholung, die Reihung, die systematische Ordnung in Mustern und Symbolen. Präziser und passender weist der Untertitel auf das Dargestellte hin: „Liberte & Egalite Freiheit & Gleichheit: Wiederholung und Abweichung in der neueren französischen Kunst.“

Der französische Botschafter Serge Boidevaix und Essens Oberbürgermeister Peter Reuschenbach sahen sich unvermittelt als Teil eines Kunstwerkes, als sie zur Eröffnung der Ausstellung durch das Museum schlenderten. Als Schattenrisse bildeten sich ihre ins Gespräch vertieften Köpfe im Lichtkegel auf einer Trennwand ab, die von einem Scheinwerfer angestrahlt wurde. Wer um die Trennwand herumgeht, wird auf der gegenüberliegenden Seite einen exakt gleichen Kreis entdecken, doch zeichnet sich hier nicht das scherenschnittartige Profil der prominenten Besucher ab. Die Wand ist nicht Lein-, sondern Trennwand, deshalb ist auf der Rückseite ein anderes Bild zu sehen. Der Betrachter, selbst Teil der Projektion, kann immer nur auf die eine Seite der Kreisfläche sehen und muß deshalb im ungewissen darüber bleiben, was im selben Moment auf der Rückseite der beleuchteten Wand geschieht. Der Lichtkreis hebt also in der Wiederholung diese zugleich wieder auf, weil der Scheinwerfer auf jeder Seite verschiedene im Raum stehende Objekte und Personen erfaßt und dadurch eine Abweichung bewirkt.

Erich Franz vom Museum Folkwang bezeichnet diese Abweichung von dem Absolutheitsanspruch, der sonst von amerikanischen Minimalisten vehement vertreten wird, als typisch französische Auslegung der minimalistischen und konzeptuellen Kunst: „In der französischen Kunst dient die Reihung als formale Struktur fast immer dazu, das einmal Identifizierte wieder zurückzunehmen, die auf einen Aspekt gerichtete Konzentration wieder abzulenken und auszuweiten, um damit das eine immer auch als Teil von etwas anderem und anders Bestimmtem umzudeuten.“

Michel Verjux' Überstrahlung von beiden Seiten derselben Trennwand erhellt stellvertretend für viele Werke der Ausstellung, daß sich die abweichende Version der vordergründig erscheinenden Wiederholung erst über eine manchmal verkrampft - intellektuelle Projektion öffnet. Wer mehr sehen will, muß die Augen schließen und grübeln, um nicht im vordergründig Gleichen schlicht das Andere zu übersehen. Oder man muß nah genug herangehen, um die kleinen Ausnahmen von der Regel erkennen zu können. Simon Hantais wandfüllende Leinwände scheinen auf den ersten Blick eine unendliche Aneinanderreihung geometrischer Formen zu sein. Aber indem der Maler das Material bei der Bearbeitung in kleine Quadrate faltete, sind die Kanten der monochromen Flächen oft vom weißen Grund der Leinwand durchbrochen; die Geometrie wird nie beherrschend, die Variation nimmt der Wiederholung die Strenge, wie sie sich sonst in der minimal art ausdrückt.

Im Grunde genommen bleibt die Ausstellung bei aller Selbstrelativierung und Mehrdimensionalität der einzelnen Werke aber eine fast anachronistisch zu nennende Retrospektive der französischen Variation der minimal art aus den sechziger und siebziger Jahren. Darüber können auch die neueren Arbeiten nicht hinwegtäuschen, die mehr wie ein Echo auf eine überlebte Phase nachklingen. Claude Rutaults Technik zum Beispiel, das gemalte Bild perfekt an die Wand anzupassen, indem es der Farbe und Struktur der Tapete so vollkommen wie möglich gleicht, mag in den siebziger Jahren als eine radikale Zuspitzung monochromer Malerei aufgefaßt worden sein: situationsbezogene Kunst, die auch die Verabsolutierung des Meisterwerkes in der Museumkunst in Frage stellte. Heute geraten Rutaults eigene Versuche, die Radikalität des Konzepts fortzuführen, zu braven Manierismen mit reiner Dekorfunktion. Eine Palette mit auf Keilrahmen gespannten Leinwänden, die in der Farbe der Wand zu bemalen sind, auf der sie hängen sollen, steht für „Übernehmer“ bereit. Die Distribution dieses „Werkes“ mit dem Titel A Vendre Par Lots - Partienweise zu verkaufen hat sich dermaßen verselbständigt, daß ein Büro die Operation übernehmen mußte. Der eigens für diesen Zweck hergestellte Katalog zeigt hübsche Motive, mit denen eventuelle Kunden den Wert einer Ledergarnitur durch ein monochromes Ensemble aus Keilrahmen steigern könnten.

Erich Franz hat sich dem Zwang zu großen Namen widersetzt und die Aufmerksamkeit auf 23 Künstler gelenkt, die sonst sicher nie so ausführlich vorgestellt worden wären (dazu muß der Besucher allerdings den Katalog zur Hilfe nehmen). Franz ist nicht gelegen an einer „Kunst der neuen Deutlichkeit, die in zwei Sekunden zu begreifen ist“, sondern an der behutsamen Einführung in die bisher vernachlässigte Kunst Frankreichs: „Das Unverständnis gegenüber gewissen französischen Organisationsformen muß nicht so weit gehen wie bei Beckmann, der 1912 von 'eingerahmten Gaugintapeten, Matisse-Stoffen, Picassoschachbrettchen‘ spricht.“ Ob damit allerdings der Einstieg in die französische Gegenwartskunst auch zur Rehabilitation der geschmähten Nachbarn in neuer Brüderlichkeit gerät, ist zu bezweifeln. Dazu bedarf es einer umfassenderen Kenntnisnahme, die noch immer nicht als selbstverständlich vorauszusetzen ist. Liberte, das kann auch die Freiheit des Darüberhinwegsehens bedeuten.

Christof Boy

Die Ausstellung ist noch bis zum 27. August zu sehen. Der Katalog mit Mappe kostet 42 DM.