Die Frau hinter dem Fötus

■ Wann werden Frauen ihre volle Individualität frei entfalten können?

8MEINUNG & DISKUSSIONMITTWOCH, 5/7/89 D OK U M E N T A T I O N

Im juristischen Wirrwarr um die Abtreibungsfreiheit in den USA hat sich die Diskussion auf den Schutz des Fötus hin entwickelt. Dabei ist die Tatsache untergegangen, daß das Oberste Bundesgericht eine Entscheidung über Frauen trifft: über deren Gesundheit, Würde, Sexualität und sogar das wirtschaftliche Wohlbefinden. Vor 16 Jahren, als die Entscheidung 'Roe gegen Wade‘ gefällt wurde, war das offensichtlich. Die Befürworter der Abtreibungsfreiheit argumentierten übereinstimmend, daß es um Leben oder Tod geht: Leben oder Tod von Frauen. Die Entwicklung des Fötus zu einem unabhängigen Wesen in unserem nationalen Bewußtsein hat die Debatte transformiert. Frauen und ihre Bedürfnisse sind in den Hintergrund gedrängt worden. Heute reden sogar fortschrittlich Denkende und überzeugte Befürworter der Abtreibungsfreiheit oft so, als seien Abtreibungen und das Erschießen eines Einbrechers moralisch vergleichbar. So, als ob es um eine verzweifelte Tat geht, die nur unter extremen Umständen begangen werden darf und dann entsprechend bereut werden muß. Dieser Position - einer Position für Abtreibungsfreiheit, aber gegen Abtreibungen - liegt ein in der Vergangenheit niemals aufgekommener Gesichtspunkt zugrunde: die Frage nach dem legalen Status und der möglichen Individualität des Fötus.

Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Behauptung der Gegner der Abtreibungsfreiheit, Abtreibungen verletzten die „traditionellen Werte“ Amerikas, waren Abtreibungen von der Geburt der Republik bis nach 1880 legal. Die Erwägungen, die zur Illegalisierung von Abtreibungen führten, hatten fast ausschließlich mit Frauen zu tun: den Gefahren von Abtreibungen für Frauen. Grund dafür war nicht etwa Unwissen über die Biologie des Fötus. Die Mediziner, die den Kampf gegen Abtreibungen im 19. Jahrhundert anführten, waren einigermaßen gut über die fötale Entwicklung informiert. Heute wird der Fötus geradezu als freistehendes Individuum angesehen, während Frauen nahezu verschwunden sind. Man überlege sich, wie irreführend wir den Fötus darstellen: als eine Art Engel im Larvenstadium mit neutralem Hintergrund. Aber kein Fötus - kein lebender Fötus - ist autonom, sondern er ist in der Plazenta verankert, in der Gebärmutter eingeschlossen und vom Fleisch einer lebenden Frau umgeben.

Ist der Fötus eine Person?

Das gleiche Phänomen finden wir im Film „Der stille Schrei“, in dem ein Fötus gezeigt wird, der sich angeblich gegen seine Abtreibung wehrt. Zweifelsohne fand die Abtreibung im Film irgendwo statt, das heißt in der Gebärmutter einer Frau. Aber im Text wird dieser Ort nicht einmal mit einem menschlichen Begriff erwähnt. Er wird immer nur als „Sanktuarium“ bezeichnet. Besorgte und unentschiedene Menschen fragen, wie wir wissen wollen, ob der Fötus nicht doch eine Person ist. Kann es nicht sein, daß die Wissenschaftler irgendwann den Zeitpunkt festlegen können, wenn ein Fötus ein Individuum ist? Doch die Wissenschaften können über die Frage des Individuums nichts aussagen. Ein Fötus ist bestimmt ein potentielles Individuum. Aber er ist auch, wissenschaftlich gesehen, eine Ansammlung von Zellen ein Körperteil einer Frau. Eine Frau mag ihren Fötus als Individuum oder nur als Zellen ansehen, je nachdem, ob die Schwangerschaft gewollt oder ungewollt ist. Das ist nicht moralische Unentschiedenheit, sondern die Praktizierung von Entscheidungsfreiheit.

Die Entwicklung, den Fötus unabhängig von dem Körper, der Gesundheit und dem Leben einer Frau zu sehen, kann die Basis eines Kompromisses werden, der die Abtreibungsfreiheit mit Einschränkungen umgibt, die Frauen dazu zwingen, es „sich noch einmal zu überlegen“. Warteperioden könnten eingeführt, Frauen gezwungen oder aufgefordert werden, sich über fötale Entwicklung informieren zu lassen. Oder man könnte ihnen nahelegen, Unterstützung vom Vater des Kindes zu erzwingen. Mit derartigen Einschränkungen würden wir unsere nationale Unentschiedenheit in der Abtreibungsfrage offenlegen, aber in erster Linie würden wir Frauen bestrafen.

Daniel Callahan, Experte für medizinische Ethik, äußerte die Überzeugung, daß die Entscheidung für eine Abtreibung von „wahrer moralischer Agonie und Qual“ der Frau begleitet werden soll. Die überwiegende Mehrheit von Frauen ist für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit. Es gibt Frauen, die Abtreibungen als eine Form von Empfängnisverhütung sehen, und Frauen, für die Abtreibungen ein letzter Ausweg sind. Fast eine halbe Million Frauen demonstrierten im April für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit.

Sie erinnern uns, daß Abtreibungen mit Frauen zu tun haben, mit denkenden, moralisch bewußten Menschen. Amerika muß zu einer ganz anderen Frage finden. Wann werden Frauen ihre volle Individualität frei entfalten können? Die Antwort kennen wir bereits: Nicht bis Abtreibungen - und Empfängnisverhütung - für alle uneingeschränkt verfügbar sind. Alles andere ist die Verletzung von mehr als nur Privatrecht. Es ist die Verletzung des Rechts auf die volle Entfaltung des Individuums - der Frau.

Barbara Ehrenreich

Der Text erschien zuerst in der 'New York Times‘. Barbara Ehrenreich arbeitet als freie Autorin und Kolumnistin u.a. für US-amerikanische Publikationen wie 'Mother Jones‘ und 'Progressive‘. Sie war lange führendes Mitglied der „Democratic Socialist Alliance“ und Mitarbeiterin linker think-tanks wie dem „Institute for Policy Studies“ in Washington. D I E A N D E R E N

Liberation

Zum Staatsbesuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow in Paris schreibt die linke Tageszeitung:

Gorbatschow kommt mit dem Glanz einer triumphalen Deutschland-Reise nach Paris, die die Siege seiner neuen Diplomatie symbolisiert, und gekrönt durch eine fast totale Eroberung der Macht in seinem eigenen Land. Kann der Kommunismus reformiert werden, oder nicht? In welches Spiel kann der Westen sich einlassen, und in welches nicht? Die Fragen häufen sich in all jenen Ländern, die sich zu Recht jahrelang vor einem erstarrten Mammut gefürchtet haben, der sich solange im Eis abgekapselt hatte. Doch die UdSSR hat sich gewandelt, und in gewisser Weise hat Gorbatschow schon Erfolg gehabt. Die Demokratisierung, die jetzt schon mehr durch ihr Ausmaß als durch ihre Vorbehalte gekennzeichnet ist, hat aus dem internationalen Sprachgebrauch bereits einen Begriff verbannt: Niemand würde heute mehr die UdSSR als totalitär bezeichnen. In dieser semantischen Verbannung liegt bereits ein Teil der Erklärung für die heiklen Probleme, die Gorbatschow dem Westen stellt.

L'Humanite

Mit „Bonjour Michail“ begrüßt das KP-Organ 'L'Humanite‘ den sowjetischen Gast.

Michail Gorbatschow auf dem Bastille-Platz: Man kann sich kaum vorstellen, daß Bush oder Frau Thatcher die Erinnerung an die Bezwinger dieser Festung der Feudalherrschaft heraufbeschwören würden. Die sowjetischen Kommunisten kommen dem Ruf der Geschichte nach Versöhnung des Sozialismus mit der Freiheit nach. Sie tun dies mit Mut und setzen sich bei jeder neuen Etappe mit tausend neuen Schwierigkeiten auseinander. Unsere totale Unterstützung ist ihnen sicher. Natürlich hat jeder seine Eigenheit. Die Zeiten, wo man Modelle kopierte oder aufzwang, sind endgültig vorbei. Aber überall, wo Anhänger der Revolution innerhalb der Revolution sich mit den konservativen Kräften und den Anhängern des Ancien Regime auseinandersetzen, können sie auf die Unterstützung der französischen Kommunisten zählen. G A S T K O M M E N T A R