Träumst du oder wachst du?

■ Blaumeier-Spektakel der wahrhaft grandiosen Art am Dienstag im Bremer Hauptbahnhof

Luise fährt nach Amerika. Luise vom „Blaumeieratelier“ will auf ihre alten Tage noch verreisen. Angst hat sie vor ihrem Mut, aber sie traut sich trotzdem. Doch wenn man verreist, in diesem Alter, geht einem so vieles durch den Kopf: Man erinnert sich an all das, wovon man nun Abschied nehmen muß. Reisen heißt: sich freuen und traurig sein. Reisen heißt auch: 'Kommt alle zum Bahnhof, nehmt Abschied von mir, freut euch mit mir, weint mit mir ein bißchen und winkt mir zu. Ich komme wieder, aber man weiß ja nie.‘

Und das „Blaumeieratelier“ hat für seine Luise und mit ihr nicht einen großen, nein - einen berauschend grandiosen Bahnhof hingelegt: „Schwesterchen, was machst du? Weinst du oder lachst du? Träumst du oder wachst du?“, im Bremer Bahnhof als echter Kulisse, mit echtem Zug, mit echtem Abfahrtspfiff. Doch ehe dieses atemberaubende Spektakel gewürdigt wird, muß auch die Bremer Bahnhofsverwaltung ihr Teil abkriegen: Daß sie dieses Spektakel ermöglicht hat, Gleise und Zug zur Verfügung stellte, daß Bahnbedienstete in ihren Funktionen mitgespielt haben, daß kein Wort des Verbotes oder

Zur-Ordnung-Rufens fiel - es ist schier nicht zu fassen und gehört quittiert mit Küssen, Blumen, stehenden Ovationen. Wer hat einen deutschen Bahnhof jemals so erlebt, wie wir, die Bremer, am Dienstag den unseren? Einen Bahnhof, so außer sich und doch

ganz bei sich als Ort der Träume, Traurigkeit, der Freude und des Abschiednehmens. Ein Bahnhof voll Musik, voller phantastischer „Blaumeier„-Figuren, randvoll mit Menschenmassen, in denen nicht ein Fünkchen Aggression vorhanden war.

Am Bahnsteig 5: Luises Koffer wird herbeigetragen, ein wunderschönes Riesending, aus dem die Figuren ihrer Erinnerungen springen. Überall ist was los, nicht überall kann man sein, aber das ist ja so egal: Die Zauber-Traum -Stimmung von „Blaumeier“ hat längst die wogende Menge mitgerissen. Hier bläst „Lauter Blech“, dort fiedelt das „Improvisierte Streichorchester“, links scheuern zwei Putzfrauen hingebungsvoll den Bahnsteig und klatschen den triefenden Putzlappen um sich herum. Wasser spritzt in die Menge - Juchzen. Dann geht es in die Bahnhofshalle: dort nisten die Erinnerungen von Luise. „Ich will nach Amerika“, ruft sie immer wieder ihre zu Herzen gehende Beschwörungsformel. Und dann geht's zum „Abschieds„ -Bahnsteig 1, zum Höhepunkt des Spektakels: Ein Zug steht da - es ist noch nicht Luises. „Der Zug, der mitspielt, kommt von dort“, informiert uns der echte Bahnbeamte - es gibt natürlich auch „Blaumeier„-Dienstmänner auf dem Bahnhof, die für „Blaumeier„-Ordnung sorgen. Also: Der falsche Zug fährt ab - und nun wird der Bahnsteig gegenüber zu einer Abschiedsbühne, wie sie wohl

nur das Blaumeieratelier gestalten kann. Von überall her strömen die abenteuerlichsten Figuren: eine Putzfrau auf Rollschuhen mit hochgeschürztem Rock, ein Chor, in Postsäcke der Bundesbahn gesteckt, ein Brautpaar samt Gästen entsteigt dem Koffer und „Lauter Blech“ wird auf Gepäckwagen einhergefahren. Von weit hinten nähern sich Blaumeier-Masken im Tanzeschritt - der Bahnsteig quillt über vor Lebens- und Bewegungslust. Und nun fährt Luises Zug vor unsere Nasen, das Blaumeieratelier verschwindet. Luise steigt in ihren Zug und winkt - „sie weint tatsächlich“, sagt jemand auf dem Bahnsteig. Und ich bin sicher nicht die einzige, die ein paar Abschiedstränen schluckt - so schön und traurig, so lustig und lebendig rührt dieses Bahnhofs-Spektakel an.

Der Zug fährt ab - der Bahnsteig gegenüber ist ganz leer: als wär's ein Spuk gewesen. Doch plötzlich tauchen die Blaumeiers wieder auf, mitsamt Luise. „Sie ist noch nicht ganz so weit gewesen“, rufen sie herüber, und wenn es jemals sowas wie Glücksgefühl nach einem Theaterspektakel gab, dann hier, auf Bahnsteig 1.

Sybille Simon-Zülch