Standbild: Rufmord zum Hundertsten

■ Die geliebte Stimme von Jean Cocteau

(Die geliebte Stimme von Jean Cocteau, Di., 4.7., 23 Uhr, ARD) Malerisch hat sich Sabine Sinjen in ihrem Neglige auf den Fußboden gegossen. Dann springt sie auf, wirft sich einen Mantel über, will zur Türe hinaus - da klingelt das Telefon. In heller Aufregung stürzt sie zurück, verheddert sich in Schnur und Mantel, greift zum Hörer...

Die Regiebemerkungen in Cocteaus Einakter La voix humaine hat Dietmar Pflegerl in seiner Inszenierung für die Westberliner Schiller-Werkstatt fast alle bedacht. Die Intention des Autors hingegen scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren.

„Es handelt sich um ein ganz gewöhnliches, mittelmäßiges Opfer, verliebt von einem Ohr zum anderen“, schrieb Cocteau über seine Figur, die seit ihrem Bühnendebut, 1930 in Paris, zu einer der begehrtesten Rollen geworden ist: Elisabeth Bergner, Jeanne Moreau, Hildegard Knef und viele andere versuchten sich in die verlassene Fast-Selbstmörderin einzufühlen, die zum letzten Mal ihren Liebsten an der Strippe hat. Einziger Bühnenpartner bei diesem Gespräch, das vom Telefonfräulein überdies ständig unterbrochen oder kommentiert wird, ist das Telefon. Eine alltägliche Tragödie wollte Cocteau zeigen, gepaart mit der nicht unkomischen Dämonie des technischen Apparates. Letzteres kann heute nur noch mühevoll nachvollzogen werden. Es bleibt das Interesse an der Frau, welches Sabine Sinjen jedoch meisterhaft auszutreiben versteht. Mittelmäßig oder normal ist sie keine Sekunde, statt dessen stets die Schauspielerin Sinjen, die eine Leidende spielt, die ihr Leid überspielt. Wie da die Arme fliegen und die Augen rollen, die Stimme vor lauter Tragik ganz mehlig wird und auch mal eine Krokodilsträne hingebungsvoll hervorquillt. Und wenn sie am Ende sagt: „Ich liebe dich“ und in qualvoller Entschlossenheit den Hörer auf die Gabel wirft, dann hört man die Eiszapfen klirren und sieht die Sinjen bereits auf ihrem Weg in die Garderobe vor sich.

Wenn der ARD an einer „menschlichen Stimme“ zu Jean Cocteaus hundertstem Geburtstag so viel gelegen ist, warum wurde dann nicht eine sendegerechte, etwa die von Anna Magnani, gewählt, mit der Roberto Rossellini 1947 den Stoff verfilmte? Dem gnadenlos intimen Blick der Kamera hält Pflegerls papierne Inszenierung nicht stand. Sie ausgerechnet zum Dichterjubiläum auszustrahlen, grenzt an Rufmord.

Petra Kohse