„BKA-Erbsenzähler“ - im freien Fall

Im Startbahn-Prozeß liefert der Sprachgutachter des Bundeskriminalamts eine dubiose Expertise / Andreas S. wird aufgrund dieses Gutachtens seit einem Jahr in Haft gehalten / Die Abtrennung seines Verfahrens sowie seine Freilassung ist wahrscheinlich geworden  ■  Aus Frankfurt Michael Blum

Der Wiesbadener Startbahn-Gegner Andreas S. wird seit einem Jahr aufgrund eines dubiosen Sprachgutachtens und dessen Fehlinterpretation durch die Anklagebehörde ungerechtfertigt in U-Haft gehalten. Wie selbst aus den Expertisen des umstrittenen BKA-Oberrates Ulrich Perret hervorgeht, gibt es lediglich eine „relative Verdachtsverstärkung“ gegen S. Der Nichtlinguist Perret hatte in mehreren „linguistischen Gutachten“ Briefe von S. mit Bekennerschreiben verglichen. Bei drei Bekennungen wurde der Diplom-Mathematiker fündig: Anschläge der Revolutionären Zellen auf Umspannstationen bei Wackersdorf und dem hessischen Kelsterbach aus 1986 sollten wegen Überschneidungen in Syntax, Wortwahl und Rechtschreibe - sowie Grammatikfehlern „wahrscheinlich“ aus der Feder des Wiesbadeners stammen. Die Bundesanwaltschaft (BAW) hatte aus den von Perret am Dienstag nachmittag im Startbahn-Prozeß vorgetragenen Papieren auf S. als Autor der Bekennerschreiben geschlossen und ihn der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt. Diese Interpretation wurde von Perret jetzt zurückgewiesen. Mehrfach mußte der BKA-Wissenschaftler zudem Aussagen seiner Expertisen relativieren und teilweise sogar zurückziehen. In einem zeitweise peinlichen Vortrag („Ich muß mich auch auf meine Intuition verlassen können“) deklasierte sich der Sprachexperte teilweise selbst.

Die Verteidigung rechnet nach der Einführung der Gutachten und der Vorstellung Perrets noch in dieser Woche mit der Aufhebung des Haftbefehls gegen S. und Abtrennung des Verfahrens. Demnach müßte der Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ fallengelassen werden. Bundesanwalt Klaus Pflieger kündigte für den heutigen Verhandlungstag eine Erklärung an. Es wird damit gerechnet, daß die BAW den Gutachter zurückzieht. Der Vorsitzende Richter des 5.Strafsenats am Oberlandesgericht Frankfurt, Erich Schieferstein, kündigte eine Entscheidung der Staatsschutzkammer über eine Haftaufhebung nach Abschluß der Perret-Anhörung an.

Andreas S. hatte sich am 27.11.1987 freiwillig dem hessischen Landeskriminalamt (LKA) in Wiesbaden gestellt, nachdem er erfahren hatte, daß der im Startbahn-Prozeß zu einer Bewährungsstrafe verurteilte und in der Szene wegen seiner Belastungsaussagen als „Verräter“ gebrandmarkte Michael K. ihn des zeitweiligen Besitzes einer gestohlenen Polizeipistole beschuldigte. K. hatte während des Prozesses alle nicht ihn selbst betreffenden Aussagen zurückgezogen. Bei seiner damaligen Vernehmung hatte S. keine Angaben gemacht und war vorläufig festgenommen worden. Am 26.Januar vergangenen Jahres wurde der Wiesbadener dem Haftrichter vorgeführt und wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ sowie wegen angeblichen Raubs je einer Polizeipistole auf den Hanauer Demonstrationen 1984 und '86 in U-Haft genommen. Drei Monate wurde Andreas S. in der JVA Frankenberg in U-Haft gehalten. Am 27.4.1988 wurde das Verfahren jedoch mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Das Verfahren wegen illegalen Waffenbesitzes wurde an die Hanauer Staatsanwaltschaft abgegeben. Am 19.Mai desselben Jahres wurde der Haftbefehl teilweise aufgehoben, S. aus der Haft entlassen. Keine zwei Monate später erfolgte aufgrund der Expertisen des in Fachkreisen umstrittenen BKA -Sprachwissenschaftlers - der Kölner Sprachwissenschaftler Raimund Drommel bezeichnete unlängst Perrets Textvergleiche und Analysemethode als unwissenschaftliche „Erbsenzählerei“

-die erneute Festnahme. Am 3.August vergangenen Jahres hatte dann der Generalbundesanwalt wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ Anklage erhoben.