Der Boom auf dem Arbeitslosen-Sockel

■ Selbst die Krisenregionen florieren - doch für Vollbeschäftigung reicht es immer noch nicht

Die offizielle Arbeitslosigkeit in der BRD liegt wieder unter zwei Millionen. Ende Juni, hat der Computer der Bundesanstalt für Arbeit ausgerechnet, waren 1.915.189 Männer und Frauen ohne Lohnarbeit. Die Arbeitslosenquote sank damit von 8,4 Prozent im Juni '88 auf jetzt 7,4 Prozent. Nicht nur die Hochkonjunktur, sondern auch allerlei statistische Manipulationen sorgen für die „niedrige“ Zahl. Was den Boom betrifft: Der wächst den Koalitionspolitikern in Bonn und der Bundesbank in Frankfurt schon fast wieder über den Kopf. Und von den alt-neuen Schlüsselbranchen sind Neueinstellungen nicht zu erwarten, weil die früheren Überkapazitäten jetzt erst einmal ausgelastet werden.

Der Zeitgeist geht auch in den finsteren Fabrikhallen der Traditionsbetriebe im Ruhrpott um. „Wir sind kein Stahlunternehmen mehr, sondern ein Technologie-Konzern“, flötete die Stimme aus der Pressestelle der Mannesmann AG stolz durchs Telefon. Wen wundert's nach all dem, was seit den 70er Jahren in der Pleitebranche passiert ist, daß die Düsseldorfer mit dem Einstieg bei Kienzle und Alfa immer stärker in Elektronik machen wollen. Und Vorstandschef Werner Dieter pflegt seit Jahren ein Konzern-Image, das immer weniger mit Stahlröhren zu tun haben soll, die bisher eher als Ladenhüter von vorgestern galten. Doch gerade hier zeigt sich, welch abrupte Wende der Zeitgeist in der bundesdeutschen Wirtschaftslandschaft jüngst vollzogen hat.

Gerade die Mannesmann-Röhrenwerke konnten im vergangenen Jahr den 1987er Verlust von 160 Millionen Mark in einen Gewinn von 380 Millionen umkrempeln, während der Bereich Elektrotechnik und Elektronik mit 100 Millionen fast ein Drittel weniger als im Vorjahr zum Konzernergebnis beisteuerte. Mannesmann ist keine Ausnahme. Die Profit -Center der Republik sind zur Zeit wieder da, wo die Schornsteine - reichlich - rauchen und weniger in den Stuben, wo Hard- und Software produziert wird. Ausnahmslos alle alten Schlüsselbranchen von Automobil- über Bau-, Stahl - und Werftenindustrie bis hin zu den Zimmerleuten in der Altbausanierung melden teilweise exorbitante Wachstumsraten.

Die Kehrseite: Es handelt sich dabei zwar um jene arbeitsintensiven Wirtschaftsbereiche, in denen die Produktivität nicht die größten Sprünge gemacht hat. Dennoch schlägt sich die derzeitige Hochkonjunktur am allerwenigsten in der volkswirtschaftlichen Zielgröße nieder, die seit langem moralisch die Nr.1 ist: Vollbeschäftigung. Wenn man die Zahlen vom vergangenen Monat mit Juni 1988 vergleicht und dabei die statistischen Manipulationen berücksichtigt, so bleibt in Punkto Abbau der Arbeitslosigkeit unterm Strich: Außer Spesen nichts gewesen.

Die immerhin floßen massenhaft. Nach dem völlig unerwartet starken Wachstum des Bruttosozialproduktes 1988 in Höhe von 3,4 Prozent erwartet Bundeswirtschaftsminister Haussmann fürs laufende Jahr gar 3,5 Prozent. Weder die SPD noch linke Wirtschaftswissenschaftler wagen es nach ihren Fehlprognosen aus den vergangenen Jahren, diesmal zu widersprechen. Der Export des Weltmeisters BRD in den ersten fünf Monaten dieses Jahres übertraf den entsprechenden Vorjahreswert um mehr als ein Viertel.

Von all dem sind nun auch Regionen betroffen, aus denen man in der Vergangenheit eigentlich nur mehr auswandern konnte. Die Industrie- und Handelskammer Saarbrücken hat in ihrem jüngsten Konjunkturtest ermittelt, daß die Produktionskapazitäten im Saarland derzeit zu 90 Prozent ausgelastet sind, ein Wert, der zuletzt 1970 erreicht worden war. 58 Prozent der industriellen Weiterverarbeitungsbetriebe in der einst düstersten Problemregion der Bundesrepublik schätzen ihre Lage nunmehr als „gut“ ein. Seit 1974 meldet die Saarstahl AG zum ersten Mal wieder Gewinn. Die IHK-Kollegen von der Ruhr melden ebenfalls „das beste Ergebnis seit über zwanzig Jahren“. Der einstige Renommierkonzern dieser Region, Krupp, konnte seinen Auftragsbestand 1988 mit 19 Milliarden Mark um 2,1 Milliarden steigern.

Die energieaufwendige Stahlprodukton zieht dabei den Bergbau mit, der seit Jahrzehnten eigentlich nur noch mit immer größerer Haldenproduktion auf sich aufmerksam gemacht hatte. Für das laufende Jahr rechnet die Ruhrkohle mit einem Absatz von 53 Millionen Tonnen, etwa 600.000 mehr als 1987. Und welche Branche könnte die Tonnenideologen mehr erfreuen als die Betonhersteller, die mit 9,5 Prozent dabei waren.

Derweil wird den Strategen der wirtschaftlichen Entwicklung in Bonn und bei der Bundesbank in Frankfurt angesichts der heißlaufenden Konjunktur unheimlich. Dabei klingen Töne an, die seit der Mitte der 70er Jahre aus dem Sprachschatz gestrichen waren. „Wir sind in der Tat besorgt, daß die Konjunktur zu stark werden könnte“, begründete Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl in der vergangenen Woche die Erhöhung der Leitzinsen. Obwohl die Preissteigerung im Mai gegenüber dem Vormonat wieder abgesackt war, hat man in Frankfurt schon wieder Angst vor anziehender Inflation. Und Wirtschaftsminister Haussmann hat nach all dem Jubel über die längste Aufschwungphase nach dem Krieg nun schon Angst vor der eigenen Courage. Er hofft inzwischen auf direktes Abbremsen der wirtschaftlichen Tätigkeit und erklärte vergangene Woche auf einer Pressekonferenz hocherfreut, daß die Gemeinden nun bereit seien, auf zusätzliche Baunachfrage zu verzichten.

Dabei hat der ungeheure Boom in diesen alt-neuen Schlüsselbranchen zu fast keinen Neueinstellungen geführt. Wenn der Auftragsbestand der deutschen Werften für Seeschiffahrt von 3,3 Milliarden Mark Ende 1987 auf 4,5 Milliarden Ende 1988 gestiegen ist, so blieb es nach Auskunft des Verbandes für Schiffbau und Meerestechnik beim Beschäftigtenstand von gut 30.000. Dieser Stand sei eine starke Überkapazität, die jedoch in den vergangenen schlechteren Jahren gehalten werden mußte, um die Infrastruktur aus Zuliefer- und Transportfirmen nicht vollends zusammenbrechen zu lassen. Nunmehr freuten sich sie Schiffbauer, ihre Kapazitäten wieder besser auslasten zu können.

Ähnlich verhält es sich am Bau, wo nach Auskunft aus dem Hauptverband der Bauindustrie in der Vergangenheit weit über Bedarf Facharbeiter gehalten worden seien, nach denen man im Falle eines plötzlichen Auftragsboom vergeblich gesucht hätte. Und in der Stahlindustrie teilen die großen Konzerne unisono mit, daß man den Boom als Strohfeuer ansieht und deshalb keine Neueinstellungen plane. Da werden lieber massenweise Überstunden eingelegt - wie im Werk Krupp -Rheinhausen, das demnächst planmäßig dichtgemacht werden soll. Die 2,1 Milliarden Auftragszuwachs von '87 auf '88 bei Krupp stehen jedenfalls einem parallelen Arbeitsplatzabbau von knapp 2.000 gegenüber.

Das war's dann also schon. Das Wachstum als vermeintlich einziger Weg zum Abbau der Arbeitslosigkeit hat es mit handfester Unterstützung von der statistischen Flanke gerade mal geschafft, die Arbeitslosigkeit um ein paar Prozentpunkte zu drücken, und schon wird es Haussmann und Pöhl zu heiß. Korrekt wird zwar stets auf die mehreren hunderttausend neugeschaffenen Arbeitsplätze verwiesen (viele davon allerdings Teilzeit), und auf die neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Erwerbsfähigen. Aber mit genau der gleichen Berechtigung spielen die in der öffentlichen Debatte keine so große Rolle wie die Zahl der Arbeitslosen. Und die oszilliert im Grunde genommen mit mehr oder weniger starken Ausschlägen um die Zweimillionenmarke. Schließlich sind beispielsweise die Aussiedler nicht nur Anbieter von Arbeitskraft, sondern auch Einkäufer, die selbst wiederum Arbeit schaffen.

Ulli Kulke