Mene Tekel Upharsin£

■ Die philosophische Leistungsschau „Zeit-Zeichen“ an der Gesamthochschule Kassel Gabriele Riedle & Rudolf Stoert westen im Zeit-Stau auf den Möbiusbändern diskreter Diskurse

„Heidegger wasn't a speedfreak!“ (Avital Ronell)

Außer den Versuchen Dietmar Kampers in Berlin gibt es nur an der Gesamthochschule Kassel seit einigen Jahren Anstrengungen, „Schwellenerfahrungen in der Reform-Ruine Universiät gezeitigt durch/vom 'interdisziplinären‘ Austausch“ (Organisator Christoph Tholen) in diversen Projekten zu realisieren. Eine „Oase“ (Kollege vom Rundfunk) in einer ansonsten von desaströser Wissenschaftspolitik & rigider Abschottung geprägten geisteswissenschaftlichen Wüste sollte also jenes „internationale Symposion“ zum mittlerweile auch 'Spiegel'-titelgeschichtswürdigen Thema Zeit sein, das die Kasseler „Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Philosoph. Grundlagenprobleme“ als bereits vierte Zusammenkunft in dieser Angelegenheit am letzten Wochenende veranstaltete. & in der Tat lösten sich die „'Akzeptanzwissenschaften‘ - die große Schule des Jasagens zur Moderne der Üblichkeiten“ (Norbert Bolz) mal von der Verpflichtung zur Sinnproduktion & pflegten eine Dauer des Gesprächs mit sich und dem Durchlauf von fast 250 Mitwesenden. So bleibt also der streng dem Ideal der Aufklärung verhafteten taz die Aufgabe, den Teufelskreis des Tausches akademischer Gaben „undankbar“ (Elisabeth Weber) zu sprengen & im Gedenken der zahlenden Lesergemeinde „unkorrumpierbar“ (Stoert) die Frage zu stellen: „So what?“

Abgesehen davon:

-daß die beiden Vorzeige-Naturwissenschaftler ihrer Rolle

-interdisziplinär - durchaus gerecht wurden (der hauseigene Physiker Helmut Gärtner hielt sich mit seinem professionell-didaktischen - „& jetzt ein Lacher„-Vortrag über die Entwicklung vom linearen Zeitverständnis Newtons bis zum Begreifen „diskontinuierlicher Zeit-Sprünge“ in der Quantenmechanik physikalisch ebenso bedeckt wie der Berliner Molekularbiologe und Derrida-Übersetzer Hansjörg Rheinberger, der über Rhythmen im Körper referierte,

-daß der „deutsch-französische Dialog“ ('Stoffel‘ Tholen) aufgrund der Absagen des schwer erkrankten Jacques Derrida & Paul Virilios eher ephemer blieb,

-daß sowohl der mehr als profunde Beitrag des jungen Menschen Armin Adam (der nach eigenem Bekunden aus dem „schlimmen Bayern“ kommend in echt Münchnerischer Dankbarkeit den Veranstaltern beinahe die Füße geküßt hätte, erlaubten die ihm doch, mit echten Größen zwanglos zu dialogisieren) zur Zeit der Entscheidung bei Carl Schmitt als auch der des „dienstdezent leger gekleideten“ (Riedle) Kasselers Gottfried Heinemann, der einen vom „ontologischen Primat der Gegenwart in der spekulativen Kosmologie A.N. Whiteheads“ erzählte, und der Zeit verstand als „koexistierende Potentiale, die ein Werden aktualisieren“, daß also beide ihren Texten jede Kompatibilität zu Deleuzeschen Ansätzen und zur Quantenmechanik verweigerten,

-daß der Mannheimer Hubertus von Ameluxen & der Kasseler Michael Wetzel bei verschärfter Anwendung des Vokabulars der Post-Moderne - „klingt gut“ (Stoert) - überraschend innovativ in der Fotografie „ein Siegel des Grundes, welches zum Geschenk und zum Gift wird“, lokalisierten & deren innewohnende „Intensität, die das Anwesen der Absenz ist“, als Zeit „des Anorganischen“ (Silber & Nitrate) verorteten,

-daß Sabine Gross aus Santa Barbara in ihrem Vortrag über „Bild, Text, Film: die Zeit des Augen-Blicks“ in ihrer zur Vollendung gebrachten rhetorischen Argumentation offene Türen einrannte, die noch gar niemand aufgebaut hatte & als quotierte Zeichentheorie-Grundkursmutti das Problem einer „Bildspur“ im „Schielen in der Endlosschleife“ (Riedle) aktualisierte,

-und daß all dies sozusagen „avantgardistisch“ (volksmundliches Schimpfwort) Zeit als Tortur des Ausharrens im „ontologischen Sperrfeuer“ erfahrbar werden ließ,

abgesehen von diesen eher unbedeutenden Nebensächlichkeiten also war das Ganze - to make a long story schort -: „interessant“ (Publikum), doch ja.

Jeweils zehn Stunden lang wurde an den vier Tagen in insgesamt 24 Vorträgen beispielsweise deutlich, daß man ein erbärmliches Sich-gegenseitig-auf-die-Schultern-Geklopfe als „Dialog“ (Richard von Weizsäcker) verstehen, „Transzendentalbelletristik“ (Norbert Bolz) als Philosophie deuten & biedere Wissenschaftsexegese als Auseinandersetzung mit der „Krise der Zeit-Zeichen“ begreifen kann.

So stellte der Leuvener Husserl-Archivar Rudolf Bernet in seinem - sprachlich präzisen - Vortrag über die „Grenzen einer phänomenologischen Zeitanalyse“ bei Husserl & Heidegger nochmals die Problematik der Gegenwart vor, deren „ekstatische Zeitlichkeit, da kein Moment bei sich selbst steht“, eher ein Verknüpfen dreier Zeitströme bzw. ein dauerndes Vergegenwärtigen von Erinnerung & Erwartung ist. & der amerikanische Lacan-Standardwerker Samuel Weber präsentierte in Sachen „Zeit und Trauma“ in seinem „synthetisierten TV-Bild-Flackern eines (imaginären) Zusammentreffens von Benjamin und Heidegger“ nochmals beider Analyse der Wahrnehmung diskontinuierlicher Geschichte als „choc„-haften, traumatisierenden Zusammenprall von Eindrücken im Flüchtigen.

Neben dem - seit Derrida - wieder häufiger Erwähnung findenden Heidegger fiel die übermäßige Wiederentdeckung von Carl Schmitt auf. Auch der Berliner Hochfrequenz -Kongreßteilnehmer Norbert Bolz sprach apropos Schmitt über den „Einbruch historischer Zeit in die Rechtsphilosophie und das Staatsrecht“. Schmitts Zentralthese des „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ wurde in der an die Bolzsche Rede anschließenden Diskussion von Friedrich Kittler - wie seit Wochen bei den verschiedensten Veranstaltungen - einmal mehr auf den neuesten altersparanoiden Stand gebracht: kurz vor seinem Ableben hatte der Altstratege nämlich bemerkt, daß Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt. (Auf die Frage an Kittler, ob es, angesichts der Verschiebung von Entscheidungskompetenz, Souveränität also, vom „Staat“ zur Maschine noch für irgendeinen politischen Text die Möglichkeit gäbe, an den industriellen Komplex anzukoppeln, antwortete Kittler: Er sehe da noch eine vage Hoffnung, z.B. könne es ja „nationales Design“ & „national verordnete Kompatibilität“ geben. Ein netter Gedanke.)

Der Berliner Psychoanalytiker, Wunderblock- und Lacan -Herausgeber und -Übersetzer Norbert Haas, der im übrigen konsequenter City-Bag-Träger ist, machte sich ebenfalls Gedanken bzw. kühne Assoziationen über Maschinen u.a. über den psychischen Apparat wegen des „Einbruchs der Zeit in die Psychoanalyse“, den er - befreit von jeglichem Argumentationszwang - in einer mäandernden Erzählung vorsang.

Neben einer örtlichen Streuung der Referenten - ihr Herkommen von unterschiedlichen Fakultäten unterschiedlicher Städte & Länder - gab es auch eine Streuung in der Zeit, die sich als Alter in die Leiber schrieb. Neben Ulrich Sonnemann saß da etwa der junge Heidelberger Jochen Mecke, der über die „Implosion narrativer Zeit“ und über „die Entsicherung narrativer Vernunft“ im 'Nouveau Roman‘ sprach. Dort verläßt der Erzähler seinen Standpunkt, von dem er - am Ende der Zeit - diese ordnen & in Geschichtsreihung bringen konnte, & tritt in die Geschichte ein, die nun ihr eigenes Telos nicht mehr kennt. Mecke zog als Beispiel Claude Simons La route de Flandre heran, um dort die Dekonstruktion eines Subjekts zu verdeutlichen, dessen Imaginationskraft nicht mehr reicht, Zeit/Erzhäler zu repräsentieren, sich nur noch in Sätzen materialisiert & dem Strom der Signifikantenkette anvertraut.

Die ebenfalls junge Elisabeth Weber aus Paris präsentierte mit ihrem Vortrag „Das Zerspringen der Zeit“ bei dem Religionsphilosophen Emanuel Levinas einen beeindruckend verdichteten Text, der mit seinen poetischen Wendungen & Wucherungen über den Zirkel hermeneutischen Tausches hinaus wies & für „mich“ (Stoert) einer der beiden Höhepunkte des Symposions war. Das Zerspringen der Zeit analysierte sie als „traumatisierende Ankunft des Anderen, die den Faden des Bewußtseinskontinuums durchtrennt, den Kern der Identität aus dem Selbst herauslöst, zu Besessenheit, gar zu Psychose führen kann“. Es folgte eine minutiöse dreifache Interpretation: „im Sinne des Geläufigen, des Aufhüllenden/Entdeckenden & im Sinne des äußersten Exils“. „Ausmerzung aus der Sprache und aus der Zeit“ spielte ebenso mit in den Text hinein wie eine griechisch-jüdische Tradition des Verstehens von „Endlichkeit und Eros“ sowie jenes „Siegels, das sich pro nomen allen aufprägt“. Es war der, im weitesten Sinne, am ehesten politisch zu nennende Text, & er ging einen an, ja.

Auch der zweite überzeugende Text, Hans-Dieter Bahrs „zur Unzeit des Gastes“, setzte sich mit der Problematik des “ Zeit-Risses“ auseinander. Er entwickelte in seiner Rede entlang Platens Harmosan in nahezu mathematischer Präzision diverse Gedankengänge; so von der Unumkehrbarkeit der Bewegung vom Objekt zum Zeichen, von der Verkehrung von Apräsenz in Absenz durch die Reflexion, von der „vergeblichen Zeit der Gabe“ & endlich davon, „daß sich das Begehren des Gastes un-dankbar und schuldlos erfüllen könne“ - zur „Un-Zeit“.

„So what?“ „Es geht nicht mehr um ein Subjekt, es geht um den Teilnehmer (z.B. den der Quantenmechanik - d.Verf.), der Maschine geworden ist.“ (Bahr)

„Come on baby, eat the rich!“ (Motörhead)

Rudi Stoert Riedle

Mentekel: unheildrohendes Zeichen (Duden)