Lieb Vaterland auf zwei Rädern

Kolumbiens erfolgreiche Radfahrer: Vom Volk geliebt, vom stammelnden Präsidenten gehätschelt  ■  Aus Bogota Ciro Krauthausen

Hector Urrego kriegt sich gar nicht wieder ein. Der Rundfunksprecher kann es kaum glauben: Martin Farfan, ein sehr unbekannter kolumbianischer Radfahrer, hat sich bei der Spanienrundfahrt das gelbe Trikot angezogen. „Vaterland, geliebtes Vaterland, Du hast es verdient!“ Urrego redet sich in Ekstase, und in der südamerikanischen Heimat hüpft alle Welt freudetrunken vor dem Transistorgerät auf und ab. RCN, einer der beiden direkt aus Spanien übertragenden Sender, stellt die Telefonverbindung zur Familie des Radfahrers her. Dann darf Martin Farfan mit seiner eher nüchternen Schwester sprechen. Kolumbien hört zu: „Schöne Grüße an die liebe Mutter!“ Tags drauf wird Martin Farfan das gelbe Trikot wieder verlieren, doch dafür plaziert sich in Madrid im Finale sein Landsmann Fabio Parra auf Platz zwei - gleich hinter Pedro „Perico“ Delgado, dem Sieger der Tour de France.

Radfahren hat in Kolumbien Tradition: Schon in den fünfziger Jahren hielten die Stars Stadt und Land bei den Kolumbienrundfahrten in Atem. Doch erst seit Beginn der achtziger Jahre, als Amateurmannschaften in Frankreich einige Etappenrennen gewannen, schaffte Kolumbien den internationalen Aufstieg. Heute sind die Pionierzeiten vorbei, und die Kolumbianer gehören zur Elite der Straßenradrennfahrer. Vor allen Dingen in den Bergetappen fahren sie den Flachlandbewohnern Europas davon. 1988 schaffte Fabio Parra mit Platz drei eine ausgezeichnete Plazierung bei der Tour de France, in diesem Jahr gehört er mit dem 28jährigen Luis Herrera zu den ganz großen Favoriten.

Gute Nachrichten sind in Kolumbien zumeist eher spärlich gesät: Morde und Massaker, Korruption und Drogenhandel machen einen großen Teil des Tagesgeschehens aus. Da ist es gut, daß es den Sport gibt, auf den alle stolz sein können. Als Luis Herrera 1987 die Spanienrundfahrt gewann, sprang sogar Präsident Virgilio Barco über seinen Schatten. Barco gehört zu der Spezies von Politikern, deren Charisma gleich Null ist und die vor Mikrophonen, vor lauter Nervosität stotternd, keinen einzigen korrekten Satz hervorbringen können. Als Herrera siegestrunken in Kolumbien ankam, trat Barco zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal auf den Balkon seines Präsidentenpalastes, zog sich das Trikot des neben ihm stehenden Radfahrers über, hob die Armee hoch und sprach einwandfrei: „Es lebe Kolumbien!“

Vaterlandsverräter

Miguel Angel Bermudez, Präsident des Radsportverbandes, sagt, Radfahren in Kolumbien bedeute „Vaterland schaffen“. Als Luis Herreras Heimatstadt Fusagasuga ihrem Idol zu Ehren ein Radrennen organisierte, über das Verkehrshindernis erboste Autofahrer das Vorhaben jedoch scheitern ließen, lautete Bermudez‘ Kommentar: „Wer in Kolumbien eine Hommage für Luis Herrera verhindert, ist ein Vaterlandsverräter. Wenn ich dort gewesen wäre, hätte es Kugeln gehagelt!“

Für das Vaterland tätig sein: den Anspruch erhebt auch Guillermo Gonzales, Pressesprecher des Gremiums der Kaffeeanbauer, das Luis Herreras Equipe mit schätzungsweise fünf Millionen Dollar jährlich sponsort. Das gelb-rot-blaue Emblem des „Cafe de Colombia“ gehört mittlerweile bei den meisten europäischen Radrennen zum Straßenbild, und sowohl Publikum als auch Sportler erfreuen sich an dem kostenlos ausgeschenkten „besten Kaffee der Welt“. Selbstverständlich geht es nicht nur um das Vaterland: Das Kaffeegeschäft läuft prächtig. So gut, daß Brasilien, größter Kaffeeproduzent der Erde, an Gegenmaßnahmen denkt und möglicherweise ebenfalls eine eigene Radfahrerequipe aufstellen will: „Cafe do Brasil“.

Angesichts eines solchen vaterlandsfördernden Geschäftes können sich auch die Radfahrer selbst über Einnahmen nicht beklagen. Luis Herreras Gehalt dürfte nur mit dem der Großindustriellen vergleichbar sein. Schon ein junger Wasserträger der „Cafe de Colombia„-Mannschaft, Angel Noe Arroyave, verdient jährlich 60.000 Dollar. Von so einem Gehalt kann in Kolumbien ein mittlerer Manager bloß träumen. Und Arroyave findet, ein Haufen Geld sei das schon, aber schließlich sei die Arbeit auch verdammt hart und gefährlich. Der junge Radfahrer weiß, wovon er spricht: Neun Monate im Jahr wird täglich zwischen fünf und neun Stunden radgefahren - Freizeit fällt für die müden Sportler meist aus. Die Rennen selber sind nicht nur mühsam, sondern risikoreich: In atemberaubendem Tempo rast der dicht gedrängt fahrende Radfahrerpulk die Berge hinunter, jagt durch scharfe Kurven - bei Regen, Nebel und Schnee. Unfälle sind an der Tagesordnung.

Solche Risiken können den kolumbianischen Nachwuchs nicht abschrecken. In einem Land, in dem sozialer Aufstieg nahezu unmöglich ist, bietet der Radsport oft die einzige Hoffnung auf Ruhm und Spitzeneinkommen. Viele begannen ihre Radfahrerkarrieren als miserabel bezahlte Boten. Der 28jährige Luis Herrera selbst war noch vor zehn Jahren ein eher ärmlich lebender Gärtner: „El jardinerito“ - „das Gärtnerlein“, der Spitzname begleitet ihn heute noch. Pedro Pablo Valdivieso, Luis Herreras Trainer, erzählt, daß nur rund 20 Prozent seiner Schützlinge über einen Schulabschluß verfügen. Allerdings sind Kolumbiens Radfahrer auch nicht die Ärmsten der Armen. Das verhindert schon der Preis der Grundausstattung für einen Anfänger: Mindestens 1.000 Dollar müssen die Eltern hinblättern, wenn aus ihrem Sohn etwas werden soll.

Träume vom Ruhm

Am Hungertuch nagende Radfahrer, die Tag für Tag, vom Ruhm träumend, allein zwischen rasenden Linienbussen auf Kolumbiens vielbefahrenen Bergstraßen trainieren und viele hundert Kilometer zurücklegen, soll es in Zukunft nicht mehr geben. Horst Schmidt, ein Trainer aus der der DDR, leitet beim Radsportverband das Nachswuchsprogramm. Nach europäischem Vereinsmodell entstehen in ganz Kolumbien Dutzende von Radsport-Schulen.

Sonntagvormittag auf einer abgelegenen Landstraße: Die Radsport-Schulen der Provinz Cundinamarca tragen einen Wettkampf aus. Es geht zu wie bei den Großen: Nervosität vor dem Start, der Pulk rast los, einer stürzt, die anderen können gerade noch ausweichen. Gustavo Millot, mit rot -schwarzem Dress und spiegelnder Sonnenbrille profihaft ausgestattet, beobachtet das Geschehen fachmännisch. Dann wendet sich der Neunjährige wieder lässig den Journalisten zu und erzählt von seinem ersten Fernsehauftritt. Sein Vater klopft ihm stolz auf die Schulter, während Gustavo uns erzählt, daß Luis Herrera sein größtes Vorbild sei. Weiter vorne zieht ein anderer Vater seinen Schützling heftig an den Ohren: „Das machst du nicht wieder.“ Der Kleine drehte ohne Erlaubnis auf seinem winzigen Fahrrad eine Runde - und stürzte.

Gesicherte Zukunft

Tito Pinzon, Trainer einer Radsport-Schule, erzählt stolz, daß einer seiner Schützlinge noch in dieser Saison erstmals in Europa starten wird. „Hay ciclismo para rato“ - die Zukunft des kolumbianischen Radsports ist spätestens mit dem Vereinsprogramm gewährleistet. Schon jetzt warten ein halbes Dutzend junger Radfahrer auf den Abtritt der Stars. Alvaro Mejia, Oliverio Rincon und Oscar Trompa sind die Namen der Zukunft. Schon längst ist „Cafe de Colombia“ nicht mehr die einzige Profimannschaft: Die Truppe von „Manzana Postobon“, gesponsert vom Konzern des größten Industriellen Kolumbiens, verbucht sogar mittlerweile mehr Siege als die Veteranen um Luis Herrera. Vielleicht, und das ist für Tito Pinzon, den Trainer, nun wirklich ein kühner Traum, wird eines Tages sogar die Schwachstelle des kolumbianischen Radrennsports behoben werden: die Flachlandetappen. Radfahren in Kolumbien wird vor allem im Gebirge betrieben - daher die erstaunliche Fähigkeit der körperlich kleinen Kolumbianer, die Alpenpässe in Europa im Nu zu bewältigen.

Aufregende Zeiten in Kolumbien: Der Giro d'Italia und die Tour de France halten ein ganzes Land in Atem. Die direkt vom Begleitmotorrad aus übertragenden Rundfunksprecher berichten live und schaffen, dauernd von Werbespots unterbrochen, eine Spannung wie bei einem Fußballspiel auch wenn nichts passiert. Daheim kann und will dann keiner richtig arbeiten. Und sollte es wirklich zu einem Etappen oder gar Gesamtsieg der Kolumbianer kommen, wird am Radio ganz Kolumbien ehrfürchtig dem Schmettern der Nationalhymne lauschen.