Die unsichtbaren Wunden

US-amerikanische und Kriegsveteranen aus der UdSSR wollen gemeinsam ihre Traumata verarbeiten / Im Rehabilitationszentrum sollen nicht nur Körper, sondern auch die Psyche geflickt werden  ■  Von Christine Schoefer

Glasnost trägt viele Früchte, zum Beispiel „citizen's diplomacy“ (Bürgerdiplomatie), zwischen den USA und der UdSSR. Unter diesem Sammelbegriff fördern verschiedene Organisationen in beiden Ländern seit 1986 Austauschprogramme. Ein Programm, das kalte Krieger besonders überraschen dürfte, ist der Austausch zwischen Vietnam- und Afghanistan-Kriegsveteranen.

Die ursprüngliche Idee für dieses ungewöhnliche Projekt stammt von den Earthstewards, einer kleinen Umweltschutzgruppe in Seattle, Washington, und zwei Vietnam -Kriegsveteranen. Sie sahen Parallelen zwischen den beiden Kriegen und vermuteten, daß die sowjetischen Soldaten ähnliche Probleme haben würden wie die aus Vietnam zurückgekehrten GIs. Die amerikanischen Veteranen wollten ihre Erfahrungen an die Russen weitergeben. Spezialisten auf dem Gebiet der Trauma-Forschung erfuhren von dem Vorhaben und waren bereit, ihre Erkenntnisse über die psychologischen und sozialen Auswirkungen von Kriegstraumata mit interessierten russischen Psychologen zu teilen. In wenigen Monaten wurde aus der Idee Wirklichkeit - man munkelt, daß Gorbatschow persönlich grünes Licht gab. So konnten sich sowjetische und amerikanische Soldaten im Oktober 1988 nach 43 Jahren - wieder einmal die Hand reichen.

Im Juni kamen 30 russische Veteranen und Psychologen in die Vereinigten Staaten. Einige besuchten San Francisco. Sie wohnten bei amerikanischen Familien, trafen sich mit Vietnam -Veteranen und mit Psychologen. Auf einer kleinen Veranstaltung erzählten die Russen und Amerikaner von ihren Erfahrungen und Motivationen und erläuterten die Ziele des Austauschprogramms.

Alexander Karpenko, Sasha genannt, erlitt schon nach drei Monaten in Afghanistan schwere Verletzungen. Mehrere Jahre wurde er in Krankenhäusern behandelt. Jetzt schreibt er Gedichte. Die amerikanischen Veteranen nicken zustimmend, als er schildert, wie isoliert er sich nach seiner Heimkehr aus dem Krieg von der Gesellschaft und dem Allta fühlte. „Ich hatte ein verbranntes Gesicht, und Leute erschraken, die mich auf der Straße sahen. Keiner kam auf die Idee, daß ich im Krieg verwundet wurde, sie dachten, ich hätte, natürlich betrunken, einen Autounfall verursacht.“ Wie anders muß das nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, als Kriegswunden gleich Orden warten. Sashas deutlich sichtbare Narben unterscheiden ihn noch heute von den meisten Kameraden. „Aber“, erklärt er, „das ist die Oberfläche. Wir alle haben dieselben unsichtbaren psychischen Wunden.“

Jim Baker, ein amerikanischer Veteran, zieht Parallelen zwischen Vietnam und Afghanistan. „High-tech und Guerillakrieg liefen nebeneinander her, die unmittelbare Nähe der Zivilbevölkerung betonte die extreme Gewalt, ein Gefühl von Zweck- und Sinnlosigkeit war unter den Soldaten, die alle sehr jung waren, verbreitet.“ Als er die ersten Fotos der in Afghanistan einmarschierenden Soldaten sah, fühlte Barker sich unmittelbar an seine Vietnamzeit erinnert. Sandy Scully, gleichfalls Vietnam-Kriegsveteran, fügt hinzu: „Wir haben verloren, die Russen haben verloren, das unterscheidet diese Kriege von vorherigen und rückt die Brutalität und die Sinnlosigkeit von Krieg schlechthin in den Vordergrund.“ Es gab keine Siegeseuphorie, in der Soldaten ihre Erlebnisse verdrängen konnten.

Scully, der im November 1988 in der Sowjetunion war, hat auch Unterschiede bemerkt. Das Netz, in dem sich heimkehrende russische Soldaten aufgefangen fühlen, sei aus etlichen kulturellen und ideologischen Fäden geknüpft. Die amerikanische Tradition, nach der nur Gewinner, nie Verlierer, beachtet werden, sei zum Beispiel in der Sowjetunion nicht so bestimmend. Trotz derartiger Unterschiede gibt es genug Gemeinsamkeiten - jedenfalls von Politik -, die Verbindungen zwischen den Veteranen schaffen.

Die ehemaligen Soldaten reden nicht nur über Schlachtfelder und Wunden, sondern planen Projekte. Sie wollen ein Rehabilitationszentrum in der Sowjetunion einrichten, in dem ehemalige Soldaten von Psychologen betreut werden können. Zur Zeit werden die russischen Veteranen - wie damals die Amerikaner - in erster Linie von Ärzten behandelt, die Schmerzmittel verabreichen und Körper flicken und wenig Erfahrung mit der Heilung einer vom Krieg geschädigten Psyche haben.

Russische Literatur über den Krieg soll ins Amerikanische übersetzt werden. Afghani wollen mit ihren Erfahrungen zu den amerikanischen Trauma-Forschungsprojekten beitragen.