Vom „Quisling“ zur „Hoffnung der Nation“

Der ehemalige ungarische Parteicheichef Janos Kadar ist tot / Bis zum Schluß war er loyal gegenüber der Partei  ■  Von Klaus-Helge Donath

„Wißt ihr denn wirklich nicht, mit wem ihr es zutun habt?“ wandte sich der ungarische Parteichef Janos Kadar noch einmal mahnend an seinen tschechoslowakischen Amtskollegen Alexander Dubcek bei ihrem letzten Treffen am 17.August 1968 auf dem Bahnhof der Grenzstadt Komarno. Drei Tage später besetzten die Truppen des Warschauer Paktes Prag. Auch die Ungarn waren dabei.

Bis zuletzt hatte Kadar versucht, den Slowaken zu einer Mäßigung seines Kurses zu bewegen, um die drohende Intervention der Sowjets zu verhindern. Und Kadar wußte, wovon er sprach. In der ungarischen Revolution 1956 stützte er zunächst die von den Aufständischen ans Ruder gebrachte Regierung unter Imre Nagy. Als diese aber Forderungen nach Einführung eines Mehrparteiensystems stellte und den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt verlangte, verschwand Kadar am Abend des 1.November und kehrte kurz darauf als Chef der von den Sowjets installierten „Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung“ nach Budapest zurück. Auch er hatte wie die Falken in der tschechoslowakischen KP 1968 „offiziell“ die „Hilfe“ der Sowjetunion angefordert.

1968 war Kadars Interesse aber bereits ein anderes. Den Prager Vorstoß begriff er zunächst als eine Chance, um den reformerischen Spielraum für Ungarn auszuloten. Als die Vehemenz der Veränderungen aber eine Intervention Moskaus befürchten ließ, mußte er um das Schicksal seiner eigenen vornehmlich auf die Wirtschaft beschränkten Reformansätze bangen. Gerade seine bedingungslose Loyalität gegenüber der UdSSR in außenpolitischen Fragen hatte ihm die Möglichkeit zu einer gewissen innenpolitischen Liberalisierung in den sechziger Jahren verschafft.

Kadar war ein Taktiker par excellence, aber sein Wirken hatte eine Linie: Schon in der KP Ungarns, vor ihrer Neugründung 1956 als Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei, die er mit Nagy zusammen betrieben hat, gehörte er zu den Zentristen der Partei. Unter fingierten Anklagen während der Stalinzeit selbst verhaftet, kam er durch Imre Nagys kurzes Intermezzo 54 erst wieder frei. Trotz seiner harten Erfahrungen unter Stalin ließ er auf Sozialismus und Sowjetunion nichts kommen. Dafür wirkte er nach der Niederschlagung des Volksaufstandes an der Liquidierung seiner Führer mit und überschwemmte das Land mit einer Welle der Repression. Zur stalinistischen Fraktion seiner Partei gehörte er später dennoch nicht. Deren stetige Versuche ihm den Ast abzusägen, konnte er immer parieren. Als ihm 1970 vorgehalten wurde, er verlasse mit seinen Reformen den sowjetischen Kurs, war es kein anderer als der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, der ihn gegen seine Widersacher aus der eigenen Partei an der Macht hielt. Kadar genoß höchste Wertschätzung in der SU, und Breschnew beteuerte „volles Verständnis und hohe Schätzung“ für Ungarns „Entwicklung der sozialistischen Demokratie“.

Sein zweifellos größtes Verdienst war die Metamorphose vom „Quisling“ des Volksaufstandes zur „Hoffnung der Nation“. Schon einmal gelang es einem Repräsentanten der Macht in der ungarischen Geschichte, diese Wandlung zu vollziehen: Franz Joseph mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867, nachdem er die Revolution von 1848 hatte blutig ersticken lassen. Wozu Franz Joseph 19 Jahre brauchte, schaffte der Magdsohn Kadar im Handumdrehen. Schon 1961 streckte er dem Volk die Hand zur Versöhnung entgegen, mit dem Legende gewordenen Credo: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.“ In der Folge räumte er der Intelligenz relative Freiheiten ein, hütete sich aber, auch hierin ein geschickter Taktiker, diese auch zu institutionalisieren. Die von dem heutigen Parteipräsidenten Rezsö Nyers entwickelte Wirtschaftsreform des „Neuen Ökonomischen Mechanismus“ führte in den ersten Jahren zu einem ziemlich hohen Lebensstandard und schuf jene entpolitisierte Atmosphäre, die die Regierenden beruhigt. Ungarn, „die fröhlichste Baracke im Ostblock“, wurde unter Kadars Ägide zum Vorbild für die Bevölkerung aller anderen sozialistischen Staaten.

Sympathien im eigenen Land brachte ihm auch sein Versuch ein, bei der Postenbesetzung das Prinzip „Fachkompetenz entscheidet vor Parteibuch“ walten zu lassen. Seinem taktischen Vermögen und seiner Skrupellosigkeit in personellen Fragen ist es zuzuschreiben, daß Kadar die Zeit der Stagnation in den siebziger Jahren unbeschadet überstand und auch das innenpolitische Klima vor größeren Verwerfungen retten konnte. In den letzten Jahren hatte Kadar an Popularität erheblich verloren. Ihm wird vorgeworfen, er hätte durch seinen Wirtschaftskurs der unbegrenzten Kreditaufnahme das Land an den Rand des Ruins getrieben. Nach seiner Abwahl als Parteichef im Mai 1988 geriet zudem seine zwielichtige Rolle während des Volksaufstandes in den Blickwinkel der Öffentlichkeit. Sein Schweigen über diese Vorgänge blockierte die Bewältigung der Vergangenheit, die von den Reformern zur Voraussetzung eines politischen Neubeginns erklärt worden ist. Die aber zögerten andererseits auch, dem 78jährigen Chef, der 32 Jahre die Geschicke der Partei gelenkt hat, allzu nahe zu treten. Das hat ihnen Kadar abgenommen. Seiner Partei gegenüber blieb er loyal bis zum Ende.