FOUCAULT „FÜRS VOLK“

■ Gespräch mit Katharina Kaiser, Kunstamt Schöneberg, und Insa Eschebach, wissenschaftliche Mitarbeiterin

taz: Das Kunstamt Schöneberg hat schon mehrere heimatgeschichtliche Ausstellungen unter verschiedensten Aspekten organisiert. In diesem Fall sind jedoch Spezialgebiete zusammengekommen, die bei oberflächlicher Betrachtung erst mal nichts miteinander zu tun haben.

Insa Eschenbach: Das ist genau das, was ich an diesem Thema hochinteressant finde, das Zusammentreffen jüdischer Kulturgeschichte, Psychiatriegeschichte, Lokalgeschichte; daß sich an einem Punkt, der sich an einem Ort festmacht, so verschiedene Realitäten kreuzen. Oder auch Fragen, die sich mir während der Arbeit mit dem Material stellten: Wie kommt es, daß innerhalb von zwanzig Jahren plötzlich soviel Leute als anstaltsbedürftig angesehen werden. Also zu fragen, was ist hier in Preußen in dem Augenblick politisch und wirtschaftlich passiert. Ein anderer Aspekt ist der baugeschichtliche: Wie kann sich aus einem Gebäude mit Sanatoriumscharakter heraus eine Anstalt entwickeln. Und ich sehe seither Gebäude auch anders, nämlich als Behältnis, und wie ein solches Behältnis dann auch eingesetzt, funktionalisiert werden kann.

Levinstein selbst preist seine „Maison“ als „zwei völlig getrennte Anstalten“ an, und auch die Lokalpresse behandelt sie so. Das heißt aber doch, daß diese Doppelgesichtigkeit der „Maison“, die Frontseite repräsentativ, die Rückseite mit den Anstaltsgebäuden, sich im Bewußtsein der Zeitgenossen wiederholt. Wie läßt sich denn ein solch gespaltenes Bewußtsein erklären?

Das finde ich auch völlig rätselhaft, wie es möglich ist, daß in ein und derselben Zeitung völlig unvermittelt völlig verschiedene Berichte stehen können. Da heißt es eben einerseits, „der Leiter des Statistischen Amts braucht eine nervliche Erholung“ und am nächsten Tag: „Wieder ein Irrer ausgebrochen.“

Mit dem Anstieg der Patienten in den 80er Jahren des 19.Jahrhunderts Verändert sich offenbar auch die Intention und Funktion der „Maison“: vom Heilen zum Disziplinieren. Gibt es da einen direkten Zusammenhang?

Es wird oft gesagt, daß der Bevölkerungszuwachs, der in Schöneberg explosiv war, zum Anstieg geführt hat: mehr Leute, mehr Patienten. Aber das allein ist es nicht. Die Prozentzahl des Bevölkerungsanstiegs ist weiß Gott geringer als die Zahl derer, die interniert wurden. Der Leistungsdruck ist mit der Industrialisierung gewachsen, und alle, die da nicht mitmachen konnten oder wollten, Alkoholiker, Obdachlose, die hat man einfach in die Anstalten abgeschoben. Daß in den sechziger Jahren Alkoholiker abgeschoben worden sind, ist mir nicht bekannt.

In einem um die Jahrhundertwende erschienenen Zeitungsausschnitt, überschrieben „Eine häßliche Szene“, wird nicht an der Tatsache Anstoß genommen, daß eine Patientin offenbar widerrechtlich interniert ist und um Hilfe ruft, sondern daß diese Szene in der Öffentlichkeit passiert. Die Toleranzgrenze für abweichendes Verhalten scheint mit der Industrialisierung gegenüber früher noch gesunken.

Nach draußen ins Grüne sollen diese Anstalten. Es ist diese wilhelminische Struktur, das Unerfreuliche unter den Teppich zu kehren, diese ganze doppelbödige Moral, die einem aus diesem Artikel ins Gesicht springt.

Im Hinblick auf die „no-restraint„-Bewegung ist das allerdings der völlige Rückschritt...

Da gibt es sicherlich eine medizingeschichtlich immanente Entwicklung, aber wohl auch einen sozialen Hintergrund. Diese „no-restraint„-Methode wurde, soweit ich weiß, wirklich nur angewandt in Privatkliniken für Leute, die Geld hatten, ihre zwei, drei Wärter, die sich um sie dann kümmerten, zu bezahlen. In dem Augenblick, wo es um 800 Patienten geht, stellt sich die Frage nicht mehr.

Katharina Kaiser: Und das Problem ist, wie wir auch in der Ausstellung deutlich gemacht haben, heute genau das gleiche: Wenn wir viele Menschen hätten, dann bräuchten wir bestimmte Methoden nicht.

Zu Zeiten der „Maison“ und auch noch heute schaut man durch Klappen und Gucklöcher auf die Irren, in der Ausstellung schaut man wie ein Wärter durch die Klappe einen langen Anstaltsgang entlang. Warum habt ihr nicht die Perspektive des Irren, des Betroffenen als Ereignisraum inszeniert, wie das neuerdings so modisch ist.

K.K.: Wir haben lange diskutiert, wie man diese Betroffenheit herstellen kann, denn man muß sehr aufpassen, daß das nicht Gruselkabinett wird. Darum haben wir in einem Raum vorsichtig versucht, mit dem Buch von Unica Zürn in die Krankheit mit all ihren Ambivalenzen reinzugehen. Wir wollten schon mit dem Spiegel zum Beispiel, wo man plötzlich mit der eigenen Situation konfrontiert wird, Alltagsemotionen anregen, aber es sollte doch über eine Verarbeitung laufen. Und die Leute sitzen auch hier und lesen die ausgelegten Schriften, und da bin ich sicher, daß das nicht Leute sind, die üblicherweise in Bibliotheken sitzen.

Die Frage ist ja auch, wie stellt man „die Irren“ aus?

I.E.: Eben. Es ist vielleicht nicht unbedingt die Position des Wärters, sondern vielmehr die der Normalität. Die aber wird wiederum gebrochen durch das, was man durch das Guckloch sieht, gerade nicht den Irren, sondern das, was vielleicht mit einem selber zu tun haben könnte.

Also „Foucault fürs Volk“, wie Katharina Kaiser es mal angedeutet hat?

K.K.: (lacht) Ich hab den Foucault vor der Ausstellung wirklich noch mal gelesen...

I.E.: Einerseits hat Foucault ja darauf aufmerksam gemacht, nach den Strukturen und nach den Mitteln, den Instrumenten auch der geistigen Überwachung, die ja keine Abwesenheit von Instrument ist, zu fragen, zum Beispiel, wie wir hier die Bauten einbezogen haben, ist sicherlich inspiriert aus dieser Richtung. Andererseits hat Foucault ein sehr idealistisches Bild von dem „Irren“. Da würde ich auch mit meiner Kritik ansetzen, denn psychische Krankheit ist nicht nur etwas, was man so subversiv besetzen kann, wie das im Gefolge von '68 getan worden ist, sondern es ist tatsächlich ein bis heute ungelöster Konflikt, eine Leidenserfahrung.

Inszeniert ist in der Ausstellung ausgerechnet der „Wildwuchs“, wobei ich nicht weiß, ob diese hochgezogenen Pflanzen nicht schon wieder...

K.K.: ...das zivilisatorische Produkt sind? (lacht) Eine alte Frau meinte neulich: „Also Leute, die die Pflanzen hier gepflegt haben, die können ja eigentlich gar nicht so böse sein“.

I.E.: Böse Menschen haben keine Pflanzen.

Aber Wildwuchs zu inszenieren ist doch ein Widerspruch in sich. „Was aber geschah, war das Ungeplante“, sobald man das schreibt, wird es unwahr, weil man schon wieder damit plant.

I.E.: Das ist das Problem der Aufklärung, kann man schon fast sagen...! (lacht)

Interview: Dorothee Hackenberg