Von Polykrates bis "Is nix"

■ Streifzüge über die Ägäis-Insel Samos / Eine Insel an der Schwelle zum massenhaften Urlauberparadies

Streifzüge über die Ägäis-Insel Samos / Eine Insel an der Schwelle zum massenhaften Urlauberparadies

„Er stand auf seines Daches Zinnen,

Er schaute mit vergnügten Sinnen

Auf das beherrschte Samos hin.

'Dies alles ist mir unterthänig‘,

Begann er zu Ägyptens König,

'Gestehe, daß ich glücklich bin!'“ (Friedrich Schiller:

Der Ring des Polykrates

Insel der Göttin Hera, der hohen Berge und langen Strände, der Blumen und Laubwälder. Samos vor 2500 Jahren: Der Tyrann Polykrates reißt die Herrschaft über die Insel an sich, ermordet seine Widersacher, erzwingt sich Macht und Reichtum. Er knüpft freundschaftliche Kontakte zu dem ägyptischen König Amassos, ruft die Dichter Anakreon und Ibykos an seinen Hof, beauftragt den Architekten Eupalinos, einen Wassertunnel zu konstruieren, und den Architekten Theodorus, den größten Tempel seiner Zeit zu bauen, den Hera -Tempel. Der Geschichtsschreiber Herodot verfaßt die Erzählung von Polykrates und dessen Ring. Er betrachtet Glanz, Macht und materiellen Gewinn des Tyrannen mit Skepsis: Wenn Glück und Erfolg nur in der Hand des Schicksals liegen, sind sie jederzeit in ihr Gegenteil verkehrbar. Was der Mensch aus der Kontrolle verliert, kann sich gegen ihn wenden. Der Philosoph Pythagoras, der auf Samos geboren ist, wandert nach Italien aus.

Samos vor 500 Jahren: Die Insel ist kaum mehr als ein Weideland für Schafe und Ziegen. Zweitausend Jahre lang von wechselnden Feinden bedroht, geplündert, beherrscht - von den Persern, Römern, Germanen, Piraten, Kreuzrittern - ist Samos nun in türkische Abhängigkeit geraten. Die meisten Bewohner sind auf die benachbarten Inseln geflohen.

Samos heute: In der Hafenstadt Pythagorion folgt Taverne auf Taverne, Bar auf Bar, davor Kunststoffsessel, ein roter, ein blauer Block. Tausende von Touristen können hier täglich verpflegt werden, vorausgesetzt, keiner stellt individuelle Ansprüche. Zwischen vorderster Sitzreihe und Kaimauer drängen sich Taxis durch die Menschenmenge. In der Hauptstraße wechseln „rent a car„-Büros mit Andenkenläden und „super-markets“. Auf den Gehsteigen rechts und links blühen Oleanderbäume. Ein Lastwagen, hoch mit Baumaterial beladen, reißt an den Zweigen und hinterläßt eine Blütenspur aus Weiß und Rosa. * * *

In einer Seitenstraße ein Gartenlokal. Ein Sitzplatz unter einem Mirabellenbaum. In dicken Ballen baumeln die reifen Früchte herunter. Unter den Füßen knirschen Kieselsteine. Die meisten Tische sind fest in deutscher Hand. Vater, knollige Beine in kurzen Hosen, sein Glas Bier vorm Bauch „An die Sitten hier kann ich mich nicht gewöhnen“ -, Mutter, adrett und drall in einem kittelschürzenähnlichen Kleid. Dessen Knöpfe, großformatig, platt, weiß, scheinen jeden Moment über dem eingesperrten Busen zu explodieren - „Eine Hitze ist das hier!“ -, eine voluminöse Stoffblume wogt auf und nieder. Wie die Schwalben oben jagen unten die Kellner hin und her - „Ober! Noch ein Bier!“ -, springen über die Blumenrabatten, hoch über dem Kopf Tabletts balancierend, voll beladen mit Gläsern, Flaschen, Tellern, Bestecken, Souvlaki, Meat-Balls, Pommes Frites, Nudeln.

„Ober!! Ich möchte zahlen!!“ - Ein neues Tablett schwankt in rasendem Tempo heran - „Ober!!! Zahlen!!!“ - Ein Geraune beginnt, schwillt an, wird gereizt, aggressiv. Etwas muß schief gegangen sein, ist dem Wirt und seinen Kellnern aus den Händen geglitten. Schon wenden sich Fremde einander zu, Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben, sprechen miteinander. Tatsächlich, Kommunikation kommt auf, längst verloren geglaubte Solidaritätsgefühle erwachen: „Was, Sie haben auch noch nicht? Wir warten auch!“ - „Unerhört! Unverschämt! Empörend!“ - Schließlich hat ein Tisch ihn erlangt, den Sieg im Kampf um das gute Recht zu zahlen, sofort und auf der Stelle! Mit stolzgeschwellter Brust, die Selbstzufriedenheit des Erfolgs auf den Gesichtern, erheben sich alle gleichzeitig, wie auf Kommando, und verlassen die gemeinsame Arena. Vergessen die beiden alten Frauchen am Nachbartisch, mit denen eben noch eine Übereinstimmung im Leid der Welt bestanden hatte. Die sitzen immer noch da. „Dabei haben wir uns doch als erste gemeldet. Das ist ungerecht!“ - „Ungerecht!“, echot die andere. - „Wenn jetzt keiner kommt, dann gehen wir einfach so!!“ Bei dem Satz recken sich plötzlich beide, wachsen um etliche Zentimeter, straffen die Gesichter, Kinn geradeaus, schauen energisch und fordernd. Da kommt Mut auf! Aus Passivität erwächst Eigeninitiative, aus Trägheit Phantasie. * * *

Ein Tag später. Sieben Uhr früh im Hotelzimmer. Die Tür zum kleinen Balkon ist weit geöffnet. Von dort tief hinunter nach Pythagorion, auf die Bars, die Tavernen, den Hafen, das Meer. Wasser und Himmel haben schimmernde Aquarellfarben. Fischerboote gleiten von ferne heran, ziehen eine glänzende Spur durch das Wasser. Nichts ist zu hören, nur das beruhigende Tuckern der Bootsmotoren. Dann plötzlich die Betonmischmaschine gleich unter dem Balkon, knirschend vertreibt sie den letzten Schlaf. Jetzt ein Hämmern und eine schrille Bohrmaschine. Pythagorion erwacht.

Später, unten in der Hauptstraße, genau da, wo sie in die Hafenpromenade mündet, haben Straßenarbeiten begonnen. Ein Preßlufthammer stampft und dröhnt. In vorderster Linie zum Geschehen sitzen die Frühaufsteher unter den Touristen mit starrem Blick nach vorne, die Gesichter ähnlich den altägyptischen Herrscherstatuen von keiner Regung bewegt. Vor jedem eine Tasse Nescafe. An den Hauswänden zappeln T -Shirts zum Verkauf. Aufschrift: Don't worry, be happy!

Ungefähr fünf Kilometer von Pythagorion entfernt liegt das Heraion, der ehemalige Heratempel, heute eine Ruinenlandschaft, umgeben von einem Schilfwald; hier und da winden sich an den Rohren Pflanzen mit weißen Blütenkelchen empor. Der Wind reibt die Blattlanzetten gegeneinander. Frösche quaken, Grillen zirpen. Hinter dem Sumpfgebiet beginnen die Oliven-, Orangen- und Aprikosenfelder, begrenzt von den Ausläufern des Ambelos-Berges. Zwischen dem Heraion und der ehemaligen Hauptstadt von Samos, dem heutigen Pythagorion, hatte es eine alte Straße gegeben, die „heilige Straße“ (4.880 Meter). Sie war mit Platten aus porösem Stein oder aus Marmor belegt. Eine Andeutung ist noch zu sehen: ein etwa zehn Meter langer Weg. Wer ihn in Gedanken fortsetzt, kann sich vorstellen, wohin er gerät: auf die Start- und Landebahn vom Airport Samos.

Nicht weit vom Heraion entfernt gibt es einen kleinen Ort: Myli. Ein Parkplatz, besetzt mit „rent a car„-Automobilen. Engländer, Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Skandinavier wandern durch die Gassen. Alle verbindet ein gemeinsames Interesse: Samos antiquarisch. Hier gibt es sie noch, die alten Häuser: ein Erdgeschoßraum, ein Obergeschoßraum, eine Außentreppe, weiße Wände, Kaskaden rotleuchtender Bougainvillea, weinüberwachsene Innenhöfe. In verwilderten Gärten lagern vergessene Amphoren. Früher einmal hatten sie der Aufbewahrung von Wein oder Öl gedient. Aber die Bewohner von Myli haben ihr Interesse an der Landwirtschaft verloren. Längst hat sich eine neue Einnahmequelle eröffnet: „Greek food“, lockt die Wirtin vom platanenüberdachten Dorfplatz. Am Ortsausgang ein Betonklotz, grau, eintönig, ungastlich: In der leeren Taverne wartet der Wirt. Hat da vielleicht jemand die Touristen unterschätzt? Gibt es noch Urlauber, die Vielfalt, Freundlichkeit, Menschlichkeit schätzen?

Noch können sie finden, was sie suchen. Aber hat erst mal eine von den Tavernen Erfolg, die im Gast nur das Mittel zum Zweck sehen, beginnt die fatale Spirale: Busunternehmen, Reisegesellschaften, Massentourismus. An die Stelle der alten Häuser mit ihren vielfältigen Funktionen und Kommunikationsmöglichkeiten treten stereotype Betonneubauten, die keinen direkten Zugang zur Straße, keinen Wortwechsel mit Passanten erlauben. Wer hier im zweiten Stockwerk wohnt, trägt seinen Stuhl nicht mehr rasch vor die Tür, um mit dem Nachbarn einen Plausch zu halten. Die neuen Häuser dienen durchweg jenen Touristen, die essen, trinken, schlafen, zahlen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Nichts hören! Nichts sehen! Nichts denken! Für reduzierte Funktionen, für reduzierte menschliche Beziehungen - das sieht man den Häusern an. * * *

Nur an wenigen Orten auf Samos werden die traditionellen Siedlungen erhalten und die alten Häuser gepflegt. Ein hervorragendes Beispiel ist Vathy, gewissermaßen die Oberstadt von Samos, der heutigen Hauptstadt der Insel. Vathy - ein Geflecht von schmalen, gewundenen, gewinkelten Straßen. Sie verlaufen parallel oder senkrecht zu den Höhenlinien der Berge, passen sich den natürlichen Hindernissen an oder weichen ihnen aus: ein Zusammenspiel von Natur und Kultur. In den engen Gassen Schatten - nur hin und wieder ein greller Fleck Sonne auf einer Hauswand, einer Treppenstufe, auf einem der kleinen Plätze, die eigentlich nur eine Straßenverbreiterung sind. Die Straßendecke besteht aus unregelmäßigen Platten, mal rechts eine Reihe von Blumenkübeln, mal links ein kleiner Innenhof, aus dem ein intensiver süßherber Duft dringt: von einem Zitronenbaum mit schweren, reifen Früchten. Auf niedrigen Mauervorsprüngen und Steinbänken sitzen Frauen, schwätzen, lachen, handarbeiten. Vor dem Kafeneion rauchen die Männer, trinken, schauen vor sich hin, ab und zu ein Satz. Schweigen.

Vielfalt und menschlicher Maßstab. Die kleingliedrigen Häuser haben meist zwei, höchstens drei Geschosse. Die schmale Front ist der Straße zugewandt. Oft ragt ein Erker im ersten oder zweiten Stockwerk vor, sachnissi nennen ihn die Griechen. Meist haben die sachnissi eine ungleiche Breite, ihr Boden bildet unten, von der Straße aus gesehen, ein spitzwinkliges Dreieck. So wirken die Erker leicht und graziös, nehmen der Straße wenig Licht und erlauben ihren Bewohnern einen Blick die Gasse hinauf oder hinunter. Bisweilen ein bogenförmiger Durchgang. Blaue oder grüne Gesimse, Fensterläden, Holzträger und Türen lockern das harte Weiß der Wände. Südliche Schwerelosigkeit. * * *

Wer mit dem Auto von Samos nach Pythagorion fährt, wird fast am Ende der Strecke ein Schild sehen: „Studios Anna“. Ein provisorischer Asphaltweg führt nicht nur hinab zu drei kleinen Studios in einem unauffälligen weißen Flachbau, sondern auch zu einer riesigen Bucht, die noch nicht vom Geld erobert, noch nicht vom Massentourismus besetzt ist. Hier, in der Bucht von Potami, wachsen Getreide und Wein, Oliven und Feigen, Apfelsinen und Aprikosen. Ein Flußlauf wird bis zum Meer hin von üppig blühenden Oleanderbäumen begleitet, am Kieselstrand wachsen gelbe und blaue Blumen. Im Schilf quaken Frösche. Ihr Palaver ist bis zum späten Abend zu hören. Es mischt sich das Piepsen junger Vögel hinein, ein vielstimmiger Chor von ratschenden, schnarrenden, zirpenden und krächzenden Stimmen beginnt, dazwischen schreit ein Esel oder wiehert ein Pferd.

Von hier aus beträgt die Entfernung zu den türkischen Bergen auf der anderen Seite des Meeres nur acht Kilometer. Ungefähr 1.500 Meter hoch erhebt sich das türkische Mykalegebirge mit seinen Ausläufern über dem Ägäischen Meer. Im Abendlicht zeigen seine Kuppeln, Hänge und Täler alle Farbschattierungen von Rosa, Blau, Violett. Dagegen leuchtet die Ebene von Potami zuerst goldgelb und schließlich grünbraun. An einem solchen Abend rollt mit quietschenden Bremsen ein „Motorbike“ oben von der Autostraße herab zur Bucht. Der Fahrer stoppt, ein kurzer Blick, dann ruft er seiner Begleiterin zu: „Is nix!“

In der Abenddämmerung fliegt lautlos ein Käuzchen heran, setzt sich auf die Wäscheleine, dreht seinen runden Kopf zum Meer, beobachtet es eine Weile - und unhörbar, wie es gekommen ist, setzt es seinen Flug fort. Später macht der Großvater aus Annas Familie einen Rundgang um das Haus und die Studios. Für ihn sind die Reisenden noch Gäste wie in alten Zeiten. Weiße Früchte bringt er zum Probieren; die haben die Form von Himbeeren, wachsen aber auf Bäumen. Er erklärt, daß ein Oktopus vor dem Grillen geschlagen werden muß, minutenlang, je nach Größe, sonst beißen ihn die besten Zähne nicht durch. Von den Touristen seiner Heimatinsel Lesbos ist die Rede. „Es gibt solche und solche...“, sagt der Großvater.

„Is nix“ sitzt derweil in einer Bar in Pythagorion, gestikulierend und schwadronierend, über Autos, Segelschiffe und Frauen redend. „Is nix“ fühlt sich nur im Getümmel wohl, hier hat er Bier, Whisky, Discos en masse. „Is nix“ wird auch sicher noch einmal nach Samos kommen - in ein paar Jahren, wenn drüben in der Potamibucht das geplante neue Hotel steht, das größte der ganzen Insel soll es werden. Im vergangenen Jahr hat genau dort ein Brand gewütet. Nun steht dem Monumentalbau nichts mehr im Wege.

Hannegret Biesenbaum „Hier wendet sich der Gast mit Grausen

'So kann ich hier nicht ferner hausen..

Fort eil‘ ich, nicht mit dir zu sterben.‘ Und sprach's, und schiffte schnell sich ein.

(Friedrich Schiller:

Der Ring des Polykrates