Große Verallgemeinerer

■ Karl Poppers St.Gallener Predigt

Karl Popper ist siebenundachtzig Jahre alt, ein kleiner Mann mit riesigen freischwingenden Ohrlappen und der Nestor der Wissenschaftsphilosophie. Dem Prinzip der Verifikation von Theorien hat er den Garaus gemacht und an seine Stelle das der Falsifikation gesetzt. Sein Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, ein Parforceritt durch die europäische Philosophiegeschichte von Platon bis Hegel, ist so etwas wie die Bibel des konservativen Liberalismus geworden. Beim berühmt-berüchtigten „Positivismusstreit“ war er der Antipode der Frankfurter, und wo immer es darum geht, den Status quo gegen rebellierende Gruppen zu verteidigen, da ist der Revolutionär der „Logik der Forschung“ zur Stelle und bellt sein: „Ideologie! Ideologie!“

Vor einer Woche hielt er einen Vortrag in St. Gallen. Die Aula der Hochschule faßte die Massen nicht, die kamen, um den greisen Kämpfer für die Wonnen von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie zu sehen. Vor den Türen standen noch einige hundert, die den Meister zwar nicht besichtigen, aber doch wenigstens hören konnten.

Die Stimmung war aufgekratzt, gespannt. Unter den Studentinnen und Studenten auch Herren in grauen Anzügen und mit kleinen Lederköfferchen, auch ein paar Damen in Coco Chanel. In der zweiten Reihe Rolf Hochhuth. Auch er freudig erregt. „Komm her, hier sieht man ihn“, rief ein junger Mann eine Bekannte und half ihr auf den Tisch. Auf dem standen die beiden dann eineinhalb Stunden lang. Zunächst ganz Konzentration, dann immer kritischer. So ging es den meisten, auch dem Berichterstatter.

Für Popperkenner gab es nichts Neues. Aber das machte nichts, schließlich war es ein Ereignis, Popper selbst zu hören. Daß er zu leise sprach, nur mit Mühe zu verstehen war, erhöhte den Reiz. Man rückte näher an den Vortragenden und damit näher aneinander. So hatte man vor zwanzig Jahren

-und ganz sicher auch einige der Anwesenden - Herbert Marcuse gelauscht.

Popper sprach vom Verrat der Intellektuellen, von ihrer Bereitschaft, für eine Ideologie Hunderttausende, Millionen über die Klinge springen zu lassen. Sokrates habe gefordert, die Regierenden müßten weise sein, also wissen, daß sie nichts, respektive sehr wenig wüßten, bei Plato sei daraus der Herrschaftsanspruch der Intellektuellen geworden: ein verhängnisvoller Irrweg. Eine elitäre Kaste, ein Haufen Besserwisser, der sich einbilde, der Rest der Menschheit sei dümmer als er. Die Intellektuellen - „damit meine ich die, die lesen und schreiben können und manchmal auch Gebrauch davon machen“ - haben nie viel mit Demokratie im Sinn gehabt. „Aber sehen Sie, Demokratie wird oft falsch verstanden. Ich meine nicht 'Volksherrschaft‘ wenn ich 'Demokratie‘ sage. Volksherrschaft ist Unsinn. Das ganze Volk kann nicht regieren, und die Vorstellung, bei jeder Entscheidung per Computer alle Staatsbürger zu befragen, ist Wahnsinn. Die entscheidende Frage ist nicht: wie bekommt man eine Regierung, sondern wie wird man sie wieder los? Und zwar ohne Blutvergießen.“

Eine typische Popperfigur: die Umstülpung. „Wer soll regieren?“ hatten jahrhundertelang Tausende von langen und kurzen Traktaten gefragt. Die Antworten darauf: alle, die Mehrheit, die Besten, einer, keiner. „Wie wird man eine Regierung wieder los?“ ist eine radikal andere Frage. Sie setzt die Unzufriedenheit, die das „Wer soll regieren?“ zu lösen vorgibt, voraus. Wer sich von den liberalen, rechtssozialdemokratischen Konsequenzen der neuen Fragestellung bei Popper selbst und seinen Anhängern in diesem Lager nicht betäuben läßt, der hört das Bonmot, den anarchistischen Witz darin. Die Schriftgelehrten aller Schattierungen mögen ihr ewiges „Quis regit?“ diskutieren, der brave Soldat Schwejk aber fragt: „Wie wird man sie wieder los?“. Poppers Art zu fragen ist die des jüdischen Witzes. So fragt keiner, der die Chance sieht, selbst einmal zu herrschen. So fragen die, die immer die Gelackmeierten waren und klug genug sind, davon auszugehen, daß sie es immer sein werden.

Popper ist aber nicht der Verfechter der prinzipiellen Unzufriedenheit. Im Gegenteil. Seines Erachtens schüren die Intellektuellen, die Projektemacher und Menschheitsbeglückungsträumer den Unmut über die bestehenden Zustände. Die Grünen sind finstere Ideologen, die die Naturwissenschaften bekämpfen, Techniker und Ingenieure beschimpfen und so zu unser aller Untergang tatsächlich beitragen könnten.

Es besteht ein auffälliger Widerspruch zwischen Poppers Ruf nach Differenzierung, zwischen seiner Absage an Globaltheorien, seinem Plädoyer für Teillösungen einzelner Probleme und seiner völligen Unfähigkeit, anders als aggressiv auf ihm Widerstrebendes zu reagieren. Wenn jemand aus dem Publikum fragt, ob man nicht auch sehen müsse, daß die Naturwissenschaften, so wie sie betrieben werden und organisiert sind, ganz sicher zu der lebensbedrohenden Gefährdung unserer Umwelt beigetragen haben und darum doch wohl in eine Selbstreflektion eintreten müßten, dann schlägt Popper mit einem Dreschflegel um sich. „Ich bin sicher, daß der Herr, der hier sich so vehement gegen Wissenschaft und Technik ausspricht, mit dem Auto hierhergekommen ist, und wenn er noch kein Auto hat, so hat er doch sicher einen Führerschein und ist auch schon mit dem Flugzeug geflogen.“ Wer vom Propagandisten der piece-meal-politics „Differenzierungen im Begriff des Fortschritts“ erwartet, ist offensichtlich an die falsche Adresse geraten. Popper wittert in jeder Kritik den Feind. Wer ihm widerspricht, wer auch nur zaghaft nachfragt - „Sir Karl...“ - und ein klein wenig in Zweifel zieht, was er in großmaschigen Argumentationen vorträgt, ist ein Ideologe, einer jener Beelzebuben, die die Menschheit nach Utopia, das heißt nach Auschwitz und in den Archipel Gulag, führen wollen. Popper scheut sich nicht, innerhalb von drei Sätzen auf die Grünen, die Nazis und wieder die Grünen zu sprechen zu kommen. Er argumentiert nicht, er macht Stimmung.

Je länger man ihm zuhört, desto deutlicher ist der Eindruck, hier hat einer sein Leben lang gegen sich selbst gekämpft. Der Eifer, mit dem er, was er für bloße Ideologie hält, attackiert, ist blind. Vor Betroffenheit. Der generelle Ideologieverdacht ist ein nicht weniger handlicher Passepartout als die von Popper so beredt attackierte Dialektik. Ein eher noch bequemeres Ruhekissen als die Lehren des historischen Materialismus. Es war für viele ein frappierendes Erlebnis, daß auch das Argument, man müsse jedes Problem für sich analysieren, einen davor bewahren kann, es zu tun. Auch der Ideologe der Entideologisierung ist ein Ideologe. Er teilt mit diesem die Verachtung der Empirie.

Popper erzählte, ihm sei es gelungen, die Grünen zu demolieren. Zweimal hätten sie ihn eingeladen. Beim ersten Mal hätten sie ihn am Anfang reden lassen. Diesen Fehler hätten sie nicht wiederholt. Er hätte ihre Ideologie so beredt widerlegt, daß keiner der Zuhörer mehr zu ihnen gekommen sei. Beim zweiten Mal hätten sie ihn erst am Schluß reden lassen, so daß die für sie verheerende Wirkung seiner Argumente diesmal nicht mehr hätte von den Medien registriert werden können. Wie gestört muß eine Wahrnehmung sein, die - eine Woche nach den Europawahlen - derart die eigene Rolle überschätzt. An welcher Erfahrung kann seine Theorie von der eigenen Überlegenheit noch scheitern?

Altersstarrsinn? Vielleicht. Vielleicht aber auch Müdigkeit. Der Verstand, der sein Leben lang gegen die großen Verallgemeinerer gearbeitet hat, ist seinem Gegner erlegen.

Arno Widmann