„Vil Dünste ins Haupt“

■ Die „Berliner Weisse“, dereinst das beliebteste Bier, kommt nur noch versüßt auf den Tisch; die reinen Zecher sterben aus

Dieses ist eine wirklich freie Gesellschaft: Alle dürfen in der Bundesrepublik ihren kulinarischen Perversionen nachgehen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. So bleiben auch alle jene unbehelligt, die zur Sommerzeit in den Berliner Schankgärten sitzen und sich das für diese Stadt als typisch geltende Erfrischungsgetränk bestellen: Berliner Weisse - je nach Wahl mit Himbeersaft oder Waldmeistersirup. Klaglos schleppen die Bedienungen die schweren Kelche an die Tische und reichen einen Strohhalm dazu. Und es scheint, als glaubten gerade Touristen, sich durch die Bestellung dieser Flüssigkeit in Giftgrün oder Bonbonrosa vor entlarvenden Blicken tarnen zu können.

Was nur daran liegen kann, daß Reiseprospekte mit Vorliebe die gängigsten Klischees aufrecht erhalten. So gilt noch immer: Berlin ist Mauer, Currywurst und eben Weisse. Ein Humbug (zumindest, was das Bier angeht). Während zum Beispiel in Bayern der Anteil des Weißbiers ( Weizenbier und hat mit der Weissen neben der Verwendung von Weizenmalz wenig gemein) am Gesamtkonsum heute noch fast ein Fünftel ausmacht, beträgt er in der Halbstadt gerade mal fünf Prozent. In der „großen geschichtlichen Dimension“ (Neuköllner Historikerschule) dieser obergärigen Biersorte Berlins ist das faktisch nichts.

Die Weisse blickt zurück auf eine mehr als 300 Jahre alte Tradition. So soll es 1780 achtzehn Weißbierbrauereien in der Stadt gegeben haben, und noch 1860 wurden in den typischen Weißbierstuben 370.284 Hektoliter obergäriges Bier getrunken, vom untergärigen (und heute gängigen, dessen bekanntestes das Pilsener ist) aber nur 150.421 hl. Wenig später änderte sich das Verhältnis, wenngleich die Menge des Geschluckten beeindruckend bleibt: 1,2 Millionen Obergäriges verzeichnet der Chronist für 1895. Womit die 120.000 hl (West) aus dem Jahre 1987 endlich in ihrer völligen Bedeutungslosigkeit begreifbar werden.

Ganz offensichtlich teilen heute nur noch wenige den Geschmack des Feldherrn Albrecht von Wallenstein, der sich während des dreißigjährigen Krieges plötzlich in der Mark Brandenburg auf dem Trockenen fand und voller Verdruß an die Berliner Stadtväter schrieb: „Ich muß den Herren klagen, daß ich kein Weißbier in der Mark bekommen, dahero denn nicht weiß, wie den Durst löschen muß, dieweil ich das Gerstenbier nicht kann trinken.“ Und Zeitgenossen bemerkten, die anderen Biere „seyn ziemlig hitzige, geben vil Dünste ins Haupt und machen leichtlig trunken“. Wohingegen das Weißbier „haltet den Leyb täglig offen. Zudem ist es den Fleyßigen nützlig, weil keynerley Müdigkeit ihn ankommet.“

Das gilt noch immer und liegt vor allem am geringen Alkoholgehalt: 2,5 bis 3 Prozent, gut die Hälfte eines normalen Bieres. Wenn die Weisse trotzdem in den Zeiten der Leichtigkeit des Daseins bei den Kosumenten nicht mehr ankommt, könnte das am Geschmack liegen? Ein bescheidener Feldversuch unter Selbstbeteiligung des Reporters mit drei Kolleginnen (was zweifellos strengen wissenschaftlichen Kriterien nicht standhält) ergab eindeutig: Die Weisse wird vom Gaumen eher beim Most oder säuerlichem Apfelwein (Bakterien!, s.u.) denn beim Biere angesiedelt (Edith K.: „Find ich toll.“).

Auch der Herstellungsprozeß weist im Vergleich zum üblichen Bier einige Abnormitäten auf: neben Gerstenmalz wird Weizenmalz verwendet (eine legalisierte Abkehr vom strengen Reinheitsgebot), beide im Verhältnis 1:1 bis 1:3 gemischt; Hopfen wird nur spärlich zugesetzt; anstelle der Reinzuchthefe kommt ein Gemenge vieler obergäriger Hefearten zum Einsatz, „die mit Milchsäurebakterien vergesellschaftet (sic!) sind“ (Schultheiss-Brauerei); die Nachgärung findet ähnlich wie beim Sekt in der Flasche statt. Wobei die Hefe praktisch den gesamten Sauerstoff in der Flasche verbraucht, was den Stoff im Verein mit dem hohen Säuregehalt nahezu unbegrenzt haltbar macht. (Soweit der Abschnitt Verbraucheraufklärung.)

So gut das auch alles klingen mag, und so sehr sich auch die Werbung bei der Weissen dem Urberlinerischen verschreibt, wenn heute in Berlin eine Kehle nach prickelnder Erfrischung dürstet, verlangt sie in der Regel bayerisches Weizen. Die Weisse kommt nurmehr in ihrer Brause-Version auf den Tisch: rassige Rote (Campari), heimliche Liebe (Himbeersaft), Berliner Walpurgisnacht (Waldmeister), frivole Rote (Kirschlikör). Schon am 24.6. 1955 hat die Zeitung 'Morgen‘ vergeblich versucht, die Schluckspechte auf die reine Lehre einzuschwören: „Ein echter Weißbiertrinker trinkt die Weiße immer ohne süßliche Zutat.“

Es hat nichts genutzt. Um die letzten Großstadtzecher, die sich am naturtrüben, bäuerlich-säuerlichen Berliner Weißbier (Idealtemperatur: 12 Grad Celsius) laben, wird sich bald die Wolfenbüttler „Gesellschaft für bedrohte Trinker“ kümmern müssen.

Herr Thömmes