Die doppelten Insulaner

■ Echte Inseln innerhalb der künstlichen: Manche kriegen eben nie genug

Hans-Hermann Kotte

Ich nahm einen neuen Anlauf, aber noch einmal kam ich unter eine Woge, welche mich bedeckte, ohne daß ich Grund und Boden verlor; dann stürzte ich mit letzter Anstrengung gegen das Ufer, kletterte über die Sandhügel und warf mich nach vollendeter Rettung aus der Gefahr des Sturmes und der Wut der Gewässer auf das Meergras nieder.

Es riecht grün, die absolute Stille wird nur unterbrochen vom kieksenden Gehupe der Riesenvögel. Sie sind überall. In den Bäumen, auf den Wiesen, den Sandwegen oder gleich auf dem Kopfsteinpflaster am Anleger. Fast stolpere ich über die trägen Luxusgeschöpfe. Pfauen, bekannt von den Kärtchen des Memory-Spiels, höchstens mal einen gesehen früher im Zoo, mit lahm im Sand schleifendem Ferderbusch. Von den Königsblauhälsen hat die Insel ihren Namen. Pfaueninsel, ein grüner Kupferstich, in der Havel gelegen, im äußersten Südwest-Zipfel Berlins. Ein historischer Landschaftsgarten, angelegt gegen Ende des 18. Jahrhunderts vom zweiten preußischen Wilhelm im „natürlichen Stil“. Damals hatte die Geometrie des absolutistischen Parks gerade ausgedient, und so entstand eine Art naturphilosophisches Freizeitpärkchen mit biotop-nahen Gehölzen und Wiesen.

Reifenspuren. Ich bin auf der Suche nach Eingeborenen, die hier irgendwo leben müssen. Den Sandweg am Ufer entlang, an der Baumschule und der Waldfontäne vorbei, bis zwei Ketten einen abzweigenden Weg versperren. Durchgang verboten. Dennoch stehe ich endlich vor dem Alten Maschinenhaus. Hallo. Und schon schaut eine alte Frau aus dem Fenster. Als ich sie frage, wieviel Menschen auf der Insel wohnen, ruft sie ihre Tochter. Die kommt nach einigem Nachdenken auf die Zahl 22. Die Familie des Kutschers, der die Arbeitspferde betreut, der Maschinist und die Seinen, die Gärtner, die Fährleute.

Johanna und Hannelore Graffunder leben seit 18 Jahren auf der Insel. „Das ist trotzdem nie Gewohnheit geworden.“ Sie schätzen die Stille und die saubere Luft. „Wenn wir Verwandte besuchen, können wir vor Autolärm und Laternenlicht kaum einschlafen.“ Die Abgeschiedenheit ist für sie kein Problem: „Nur beim Einkaufen darf man eben nichts vergessen.“ Der junge Fährmann dagegen will weg von der Insel. Ihn stört der weite Weg in die Stadt und daß er hier festsitzt, wenn die Fähre kaputt ist und wenn im Winter der Schnee hoch liegt. Inselkoller: „Hier herrscht soziale Kontrolle wie auf dem Dorf.“ Auch mit der Altersstruktur der Insulaner kann er sich nicht anfreunden. „Die gehen fast alle auf die Rente zu.“

Beim Anblick des Geldes lächelte ich. „Nichtswürdiges Blech“, rief ich aus, „wozu kannst du mir nützen? Es ist nicht der Mühe wert, daß ich mich bücke, um dich aufzuheben; ein einziges von diesen Messern ist für mich ein kostbareres Ding als alle Schätze der Welt. Bleib also, wo du bist, oder vielmehr, laß dich verschlingen vom Schlunde des Meeres wie eine verächtliche Ausschußware!“

An den riesigen Parkplätzen des Strandbads Wannsee vorbei Richtung Norden. Der noble Fahrschulwagen, ein weißes Golf Cabrio wird den Weg weisen. Hinterher. Und schon bin ich, über eine kleine Brücke auf der Prominenten-Insel Schwanenwerder. Knapp 50 Villen an einer Rondellstraße, beschattet von alten Eichen. An keinem der Häuser, ob Jugendstil oder verzweifelt ans Bauhaus gemahnender Bauklotz, fehlt das rote Alarmlicht. Namensschilder: Fehlanzeige. Die Straße ist menschenleer, auch die spärliche Infrastruktur, Telefonzelle und Briefkasten, wird nicht genutzt. Endlich tritt ein Mann auf die Straße, in blauem Hemd mit Achselkläppchen. Er fingert an einem schmiedeeisernen Einfahrtstor und geht dann zur Garage auf dem Nachbargrundstück, wachend und schließend. „Sie wollen wissen, wer hier so wohnt.“ Der Mann von POWER, Personen und Werksschutz Berlin, wie der Sticker am Ärmel verrät, hat meine Absichten gleich erkannt. Kein Objektschutz ohne Menschenkenntnis. „Hallervorden, Friede Springer, Schertz, der Polizeipräsident, ja und die Erben von Schoko-Monheim mehr nich.“ Auch die Nazi-Bonzen, die hier ihre große Zeit verlebten, hat er gleich parat. Goebbels, Hitlers Leibarzt Morell und die Reichsmädelführerin. Wieviele Reiche hier momentan residieren, kann der Mann leider nicht sagen.

Ich fahre weiter und halte hinter einem Auto mit dem Aufkleber „Nimm Dir Zeit für Gott“ an der Heckscheibe. Daneben profaner Maschendraht, dahinter gräulich-weiße Pfadfinderzelte, Kleinbusse, ein Toilettenhäuschen. Hier führt die Aktion „Kinder in Luft und Sonne“ stadtgeplagte Schöneberger Jugendliche der Erholung zu. Gleich nebenan lassen die Bezirke Steglitz und Neukölln zelten, und Tempelhof hat im Norden der Insel kleine Holzhütten gebaut. Ausgeruht grölende Jugendliche fordern seit Kriegsende alljährlich das Imperium der Villenbesitzer heraus. Das schlug gerichtlich zurück, weil die Insel vom Bebauungsplan her „reines“ Wohngebiet war. Mit einer Altersbegrenzung, 14 -Tage-Rhythmus und Übernachtungsverboten wurde die „Plage“ eingedämmt, bis endlich im letzten Jahr ein neuer Bebauungsplan die Zeltplätze als „Sondergebiet“ absicherte. Nun sollen außerdem schallschluckende Grünstreifen wie an der Autobahn die Idyllen voneinander trennen. Irgendwie eine rot-grüne Insel.

Der Platz war bedeckt mit menschlichen Gebeinen, der Boden feucht von Blut und der Rasen mit halbabgenagten und geschundenen Stücken Fleisch, kurz, mit allen Überbleibseln des Triumphschmauses, durch welche die Wilden den über ihre Feinde davon getragenen Sieg gefeiert hatten.

Eine Gastronomie-Insel. Lindwerder, direkt am Surferparkstreifen Havelchaussee gelegen, ist der Austragungsort gigantischer Hochzeiten, selbst ein leibhaftiger Landessportverband könnte sich hier noch versammeln. Ein Restaurationsbunker beherrscht das flache Eiland. 400 Plätze auf der Kaffeeterrasse, 400 drinnen. Daneben hat nur noch gerade der Yachtclub Müggelsee Platz. Die Gäste werden mit einer eigenen Barkasse übergesetzt (DM 1,50). Die Segler, die mit Autos die Insel entern, kommen per Fähre in Handbetrieb. Ich kann gerade noch auf die Fähre springen, als ein Seebär samt Frau und Ford Mustang übersetzt. Ob die Insel das ganze Jahr über bewohnt sei, frage ich und werde gleich gegengefragt: „Schreiben Sie über die Havelchaussee?“ Die Straße, die von der Heerstraße bis zum Wannsee an der Havel entlang durch den Grunewald führt, soll vom Senat für Autos gesperrt werden. In Zukunft nur noch Bus. Da rasten die Surfer und Segler aus. Der Seebär volkszornt: „Also wenn det kommt, dann biet ick dem Momper mein Boot an, für 25.000, det soll der koofen, det brauch ick dann nämlich nich mehr.“ Auch Gastronom Horst Biskup, der während der Saison auf der Insel lebt, fürchtet die Sperrung. „Wir würden baden gehen“, meint er, und vor seinem geistigen Auge scheint bereits das ganze Restaurant in Schräglage zu gehen, samt seinem maritimen Schnickschnack, Ziertampen, Messingglocken, gefälschten Positionsleuchten und Steuerrädern aus Furnierholz. 15.000 Unterschriften gegen den drohenden Untergang will er schon gesammelt haben. Vom Mann hinterm Tresen bekomme ich noch etwas Rauhes mit auf den Weg: „Wenn die Straße gesperrt wird, bewaffne ick mir und dann kall‘ ick det rote Gesockse ab.“ Der Mann muß ein Holzbein haben.

„Wie kannst du nur so heuchlerisch zu Werke gehen“, sagte ich mir, „und gegen Gott Dankbarkeit für dein Schicksal fälschlicherweise vorgeben, in welches du dich im strengsten Sinn genommen nur schicken kannst, von welchem aber dich befreien zu wollen, du vom Grund deines Herzens ihn anflehst?“

„Paradies oder Hölle, das entscheidet sich täglich.“ Jennifer ist Schülersprecherin auf der „Schulfarm Scharfenberg“, Berlins einzigem staatlichen Internat, das die ganze Insel Scharfenberg für sich hat. Hier leben 150 SchülerInnen von Klasse 7 bis 13 in der doppelten Isolation von Internat und Insel. Runter kann man nur per Fähre oder Ruderboot, der Landgang ist eingeschränkt. Ein Bildungsidyll: Gymnasium mit angeschlossenem Bauernhof, Bienenstock und Baumschule. Wie es scheint, den Humboldts verpflichtet, die einst die Insel als ihre Spielwiese nutzten. Das Angebot liegt weit ab vom Normal-Kanon, die Insel allerdings auch weit ab vom Stadtzentrum im Tegeler See. Töpfern, Offsetdrucken, Klavierspiel, Surfen, Segeln. Inselfeuerwehr, das Warten der Schulfähre und die Schafzucht sind weitere Details der ganzheitlichen Ausbildung. Die Bildung ist immer präsent: die Bäume am alten, romantischen Hohlweg, der Schul- und Wohngebäude verbindet, sind mit kleinen lateinischen Schildchen versehen. Dendrologische Seltenheiten wie die Ungarische Eiche oder die Bergulme sind dabei. Sie wollen wahrgenommen sein vom eifrigen Studiker, der morgens selbstgemolkene Milch trinkt und sich nachmittags der Rosenzucht widmet.

Meine Insel war jetzt bevölkert, und ich sah mich reich an Untertanen. Es war soweit, daß ich manchmal lachend zu mir selbst sagte, ich gleiche nun in der Tat einem Alleinherrscher. Das ganze Land war mein unbedingtes Eigentum; ich hatte darauf ein unbestreitbares Oberherrlichkeitsrecht.

Nach Hasselwerder geht es nur per Tretboot. Neben dem verfallenen Steg ziehe ich das Boot auf den Sand. Die Insel ist dschungelartig zugewachsen, doch das Grün wirkt gräulich, eher wie Bewuchs an einem Autobahnparkplatz. Ich stoße auf eine Ruine. „Haus Hasselwerder“ steht in ausgeblichenen Nazi-Blockbuchstaben an dem verfallenen Gebäude, dessen Fensterlöcher inzwischen mit Glasbausteinen gefüllt sind. Die große Eisentür des kleinen Kühlhauses hintendran verweist auf ein ehemaliges Ausflugslokal. Vergammelte Parkbänke hier und dort, umgedrehte, völlig vermooste Boote, Schrott-Teile, wie ein zu Wasser gelassener Neuköllner Hinterhof.

Ich nehme einen Trampelpfad und erreiche die menschliche Ansiedlung. Schreberhäuschen, dazwischen Zelte, ein Spielplatz mit einem Haufen verwaister Matchbox-Autos. Hinter einer Umzäunung aus Blumenkästen und Bierfässern steht eine alte Frau vor ihrem Holzhaus. Trudchen, über sechzig, in Jogginghose und Strickjacke, wie sich heraustellt, die Inselwartin. Sie sorgt dafür, daß alles immer „uffjeräumt“ bleibt bei dreißig freizeitenden Familien auf der kleinen Insel. Ihre Parzelle hat sie seit 17 Jahren gepachtet, für 1.300 Mark im Jahr. Sie und ihr Mann sind die dauerhaftesten Insulaner. Von März bis September sind sie jedes Jahr durchgehend hier. Ein Einsiedelleben. Nur eine Trinkwasserpumpe, kleiner Gaskocher, Chemieklo, einmal die Woche wird eingekauft. Langweilig findet sie das überhaupt nicht. Hier ist sie freier als in der Stadt, „wo alles verboten ist“, wo die Luft schlecht ist und die Nachbarn lärmen. Strom gibts hier zwar nicht und auch kein Telefon. „Aber mit der Autobatterie und der alten Stuben-Libelle krieg ich sogar SAT 1 in den Fernseher.“ Seit sie im Krieg evakuiert war, hat sie sich immer wieder nach dem Landleben gesehnt. Stören tut sie eigentlich nur der Lärm, der manchmal vom Flughafen Tegel zur Insel herüberdringt. Trudchen: „Hier kann ich tun und lassen was ich will.“ Hauptsache uffjeräumt.

Kursive Auszüge aus „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe.