: „Letzte Spuren“
■ Dokumente über Opfer des NS-Vernichtungswahns in der Villa Ichon
Das Jahr 1940 beschert dem Danziger Textilfabrikanten und Pelzverarbeiter Fritz Emil Schultz einen lukrativen Auftrag: Er soll die deutsche Wehrmacht mit warmen, winterfesten Textilien beliefern, die für den bevorstehenden Überfall auf die Sowjetunion benötigt werden. Mit diesem Auftrag wird die Firma Schultz & Co kriegswichtiger Rüstungsbetrieb und expandiert. Schultz weiß auch wo und wie.
Seit September 1939 hält die Wehrmacht den westlichen Teil Polens besetzt. In ihrem Gefolge überzieht die SS das Land und beginnt mit der Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung: In Warschau z.B. werden die Juden in bestimmten Straßenbezirken zusammengedrängt, die später als Ghetto hermetisch von der Stadt abgeriegelt werden. Hier sind sie bereits ihrer Geschäftsgrundlagen beraubt und müssen einen gelben Stern an der Kleidung tragen. In diesem Teil der Stadt hat F.E. Schultz einen jüdischen Geschäftspartner, den Lederfabrikanten Hendel; außerdem kennt er den Ghettoalltag der entrechteten jüdischen Bevölkerung sehr genau. Ab 1940 wird immer härter gegen die Juden vorgegangen.Im Zuge der Enteignung jüdischer Betriebe im Ghetto „übernimmt“ Schultz die Fabrik seines ehemaligen Geschäftspartners Hendel und legt damit den Grundstein zu einer rasenden Vergröße
rung seines Besitzes: 1941 arbeiten im jüdischen Ghetto 450 Menschen für Schultz, bis 1943 werden es über 7000 sein.
Die Ausstellung in der Villa Ichon verknüpft sehr anschaulich die Geschichte des Warschauer Ghettos mit der Firmengeschichte Schultz. Während der Großteil der Juden dem steigenden Terror der SS ausgeliefert ist, werden die RüstungsarbeiterInnen bis 1942 weitgehend von Schikanen verschont. Den Arbeitsbedingungen dieser „Privilegierten“ gilt der weitaus größte Teil der Ausstellung. Hier zeigen Fotos gestellt-emsige, ernste Menschen, die konzentriert ihrer Arbeit nachgehen: Näherinnen, Gerber, Schuster, Wäscherinnen, Holzdreher. Wahrscheinlich stammen die Fotos aus dem Jahr 1942, während im Ghetto die ersten gezielten Deportationen in Vernichtungs-und Arbeitslager beginnen. Nichts deutet hier auf die Grausamkeiten hin, die sich außerhalb dieser Werkstätten abspielen. Die Entstehungsgeschichte der Bilder gibt keinen befriedigenden Aufschluß: Der Fotograph ist unbekannt und Überlebende gibt es wohl nicht, die berichten könnten, wie diese Fotos zustande gekommen sind. Spekulativ bleibt die These der Aussteller, die Firma Schultz habe die Fotos für die Wehrmacht aufnehmen lassen, um die Funktionsfähigkeit des Betriebes im
Ghettoterror zu suggerieren. Daß die Belegschaft diese Werbe -und Überzeugungsrolle mitgetragen habe, sei einleuchtend: Letztlich hätten die Menschen in ihrer Rüstungsarbeit eine „scheinbare Entkommenschance“ gesehen.
Die folgenden Ausstellungssektionen „Vernichtung“ und „Leben im Ghetto“ sind nur sehr spärlich mit Fotographien bestückt. Die meisten Informationen laufen in diesen Teilen über Textblätter. So entsteht beim Betrachter eine Verzerrung in der Wahrnehmung, die Informationsdefizite fördern und zu krassen Fehldeutungen führen kann. Wer nicht genug Zeit mitbringt, sich durch die Texte zu arbeiten (die übrigens im letzten Ausstellungsraum wahllos neben, über-und durcheinander zu hängen scheinen), erfährt kaum etwas über die Deportationen nach Auschwitz und Treblinka ab August 1942 oder die Übersiedlung der Rüstungsbetriebe aus dem Ghetto nach Trawniki, einem Arbeits-und SS-Ausbildungslager. Wenig auch nur über den jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto und dessen brutale Zerschlagung, wenig über die Aktion „Erntefest“, bei der die SS am 3.11.1943 über 40.000 polnische JüdInnen erschoß, darunter auch alle ArbeiterInnen der Firma Schultz und Co.
ma
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