„Tatsache ist, daß die Gesellschaft auf unserer Seite ist“

Sasa Vondra, einer der drei Sprecher der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, im Gespräch über politische Alternativen in der Tschechoslowakei  ■  INTERVIEW

taz: Seit den Anfängen der Charta 77 hat es noch nie einen so jungen Sprecher wie Sie gegeben. Wie sind Sie zur Politik gekommen?

Vondra: Ich studierte Geographie an der naturwissenschaftlichen Fakultät, dann arbeitete ich zwei Jahre im Museum. Zuletzt war ich Computerprogrammierer, doch Ende Februar wurde ich, weil ich bei der Januarkundgebung für Jan Palach dabeigewesen bin, entlassen. Seit Anfang der achtziger Jahre galt mein eigentliches Engagement aber der politischen Arbeit. Ich habe mit mehreren unabhängigen Gruppen zusammengearbeitet und gebe mit einigen Freunden ein Literaturmagazin heraus. Außerdem war ich letztes Jahr der Vertreter von Charta-Sprecher Stanislav Devaty. Daß ich jetzt Charta-Sprecher bin, ist darum gar nichts Besonderes.

Nachdem Vaclav Havel Mitte Mai aus dem Gefängnis entlassen wurde und Stanislav Devaty von der Untersuchungshaft befreit wurde und seinen Hungerstreik beendet hatte, hat es den Anschein, als ob auch in der Tschechoslowakei eine Welle der Liberalisierung beginnt. Erst kürzlich konnten einige Charta -77-Leute zu den Begräbnisfeierlichekiten von Imre Nagy nach Budapest reisen. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Ich will glauben, daß das alles Zeichen für eine Verbesserung der Situation in der Tschechoslowakei sind; es muß so sein. Ich habe mir nicht gedacht, dieses Jahr könnte so hart werden, daß wir gleich alle eingesperrt würden. Ich habe mir vielmehr Diskussionen über politische Kompromisse erwartet. Die Tschechoslowakei kann nicht der schwarze Fleck im Herzen Europas bleiben. Trotzdem, ich bin kein Prophet und muß auf alles gefaßt sein. Stanislav Devaty und Vaclav Havel gehören zu meinen besten Freunden und ich bin erleichtert, daß sie wieder auf freiem Fuß sind. Außerdem brauchen wir sie dringend, damit sie neue Perspektiven und Konzepte entwerfen.

Vaclav Havel hat kurz nach seiner Freilassung davor gewarnt, zu optimistisch zu sein. Er sei zwar frei, doch viele andere säßen noch im Gefängnis. Welche Leute sind das?

Es sind sogar mehr Leute als vor einem Jahr im Gefängnis. Ivan Jirous, der geistige Vater der Pop-Gruppe „Plastic People of the Universe“ zum Beispiel. Ebenso Frantisek Starek und Petr Cibulka, Herausgeber eines Literatur- und Musik-Magazins. Er wurde ohne Gerichtsverhandlung zu zehn Jahren Haft wegen illegalen Unternehmertums verurteilt. Ich glaube, alle Dialoge in nächster Zeit müssen unter der Bedingung der Freilassung dieser politischen Häftlinge geführt werden.

In Prag gibt es derzeit einige Umbesetzungen in der Regierung, die darauf hinweisen, daß sich möglicherweise ein genereller Gesinnungswandel anbahnt. Glauben Sie, daß allmählich reformistischere Kräfte in der Partei zum Zug kommen?

Bei der Regierung gibt es wirklich wenig Zeichen von Liberalisierung, doch in der Gesellschaft ist das anders. Da gibt es Anzeichen, die mich optimistisch stimmen. Zum Beispiel die Studenten an der Universität. Vor einigen Jahren waren sie noch total verängstigt. Jetzt rufen sie mich an, besuchen mich in meiner Wohnung und versuchen ein unabhängigens - natürlich von der Zensur geduldetes Magazin herauszugeben. Aber auch die Situation in den Fabriken bessert sich allmählich. In einer Maschinenfabrik an der Prager Peripherie haben die Arbeiter zum Beispiel einen Tag umsonst gearbeitet und das so ersparte Geld den Familien von politischen Häftlingen zukommen lassen. So etwas hat es noch nicht gegeben, es ist etwas völlig Neues. Ich glaube, daß die totalitäre Struktur der Gesellschaft in der Tschechoslowakei langsam zerbricht und den Weg für eine pluralistischere Gesellschaft öffnet. Noch vor einigen Jahren gab es ein großes Loch zwischen den Dissidenten dieser Gruppe von Träumern - und der Gesellschaft. Jetzt wandert dieses Loch auf einen neuen Platz, nämlich zwischen die Regierung und die ganze Gesellschaft. Das ist gut so, denn das Wichtigste ist, daß die Gesellschaft auf unserer Seite ist.

Meistens gehören die Gründungsmitglieder der unabhängigen Gruppen, die in den letzten Jahren gegründet wurden, der jungen Generation an, der Generation, die 1968 noch in den Kinderschuhen steckte. Auf diese jungen Aktivisten hofft man in Prag. Warum?

Eine typische Eigenschaft der älteren Generation ist der Skeptizismus. Die Illusionen dieser Generation wurden durch die Invasion der sowjetischen Panzer zerstört. Die Jungen sind weniger frustriert und dadurch spontaner. Ich finde die unabhängige Friedensgruppe NMS sehr wichtig. Diese Gruppe kämpft zum Beispiel für einen alternativen Armeedienst. Vor zwei, drei Jahren war das Wort „Friede“ ein gefährliches Wort, denn es war das wichtigste Propagandainstrument der Regierung. Immer und überall haben sie es verwendet. NMS hat sich dann dafür eingesetzt, daß der Begriff wieder seine ursprüngliche Bedeutung erhält, und somit haben sie natürlich auch das Propagandainstrument zerstört.

Die Charta 77 ist eine pluralistische Gemeinschaft von Menschen, deren gemeinsames Ziel die Verteidigung der Bürger - und Menschenrechte ist. Die drei Sprecher, die jährlich ernannt werden, entstammen den unterschiedlichsten weltanschaulichen und sozialen Gruppen. Dennoch müssen sie ihre Beschlüsse einstimmig fassen. Kommt es da nicht oft zu Reibereien?

Ja, das ist schon schwierig, denn die Charta besteht aus Leuten, die das ganze Spektrum der Gesellschaft, vom Eurokommunisten bis zum Erzkonservativen, umschließt. In Menschenrechtsfragen ist die Konsensfindung einfach. Bei politischen Fragen wird das schon schwierig. Aber ich glaube, daß für realpolitische Angelegenheiten andere Gruppen, später hoffentlich Parteien, zuständig sein müssen. Das heißt nicht, daß dann die Charta unwichtig würde. Man darf nicht vergessen, daß alle Charta-Unterzeichner eine große Verantwortung haben, daß sie, wenn sie politisch aktiv sind, dem Geist der Charta nicht untreu werden dürfen.

Neu in der Geschichte der Charta 77 ist, daß einer der drei Sprecher zur jungen Generation gehört. Soll dadurch die Charta reformiert werden?

Ja, in gewisser Weise. Vor drei Jahren hat es ein Schisma gegeben. Davor war es üblich, daß ein Sprecher Eurokmmunist, einer Katholik und einer ein unabhängiger Vertreter der Gesellschaft war. Die Jungen haben sich dann aufgeregt und mehr Mitspracherecht verlangt. Seither gibt es die Regelung, daß ein Sprecher jung sein soll. Der ist dann auch der Arbeiter im Triumvirat, der, der ordentlich anpacken muß. Aber er hat natürlich auch die möglichkeit, etwas zu verändern und einen jungen Standpunkt in die Diskussionen einzubringen.

Alexander Dubcek ist heute für junge Leute in der Tschechoslowakei ein Sympbol für bessere Zeiten. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die ihm vorwerfen, daß er 1969 die Phase der Normalisierung nicht scharf genug verurteilt hat und somit zu einem Handlanger der neuen Führung wurde. Wie ist die Beziehung zwischen der Charta 77 und Dubcek?

Es gab in all den Jahren keine Verbindung zwischen den Dissidenten und Dubcek. Vielleicht hatte er irgendwelche geheimen Kontakte zu einigen Eurokommunisten, aber sonst hat er sich völlig zurückgezogen. Für mich hat er darum kein Mandat. Drei Interviews im ungarischen Fernsehen sind nicht genug, auch ein Beusch am Friedhof und einer bei Vaclav Havel nach dessen Freilassung sind nicht genug. In den letzten 16 Jahren ist in dieser Gesellschaft ein Geist der Solidarität entstanden, den niemand, wenn er politisch aktiv werden will, vergessen kann. Aber ich will auch kein Urteil über Dubcek fällen. Wer weiß, wie es ihm nach der Invasion 1968 ergangen ist. Für mich gibt es einfach viele andere, die ein Mandat haben. Dubcek hat es nicht. Das Problem ist nur, daß viele von ihnen nicht Politiker werden wollen. Dubcek würde es vielleicht, Havel aber nicht. Vielleicht wäre daher Dubcek eine plausible Übergangslösung in einer nächsten Phase des Demokratisierungsprozesses, denn wir wollen ja eine Evolution und keine Revolution, und alle Kommunisten können wir nicht gleichzeitig verjagen. Auf der anderen Seite bin ich fest davon überzeugt, daß bei einer Demokratisierung der Regierung und Partei vor allem junge Leute für diese Aufgabe gewonnen werden müssen. Die unabhängigen Gruppen, die jetzt im Entstehen sind, bilden dafür die beste Basis.

Interview: Monika Czermin und Oliver Lehmann