Ca suffit - Paris rettet seine Revolution

■ 200.000 Menschen protestieren gegen Mitterands Jubelfeiern

Die pompösen Festlichkeiten und Umzüge zum 200.Jahrestag der Revolution sorgen für Unmut in der französischen Linken bis hinein in die sozialistische Partei. Zur Ehrenrettung „ihrer“ Revolution organisierten sie am Samstag eine Gegenveranstaltung auf der Place de la Bastille. Revolutionskritik kommt auch aus dem Departement Vendee, das schon 1789 auf Distanz ging.

Von Lafayette bis Daniel Cohn-Bendit - einen Helden fand das Pariser Volk noch jedesmal, wenn es an der Zeit war, die Bastille zu stürmen. Am Samstag hieß der Held Renaud, und Paris war wieder zum Leben erwacht. Wie immer an diesen heißen Pariser Julitagen, während derer in der Vergangenheit so viel geschah, zog es die Leute auf die Straße. Für solche Fälle hatte einst Heinrich Heine vorgewarnt: „Es darf dann auch nicht regnen, denn die Pariser fürchten nichts mehr als den Regen, und dieser verscheucht die Hunderttausende von Männern, Weibern und Kindern, die meistens geputzt und lachend nach den Walstätten ziehen und durch ihre Anzahl den Mut der Agitatoren heben.“ Am Samstag regnete es nicht. Die Pariser hatten sich fürs Revolutionsfest geputzt, die Bastille zur Walstätte erkoren, und dort agierte Renaud.

Jeder kennt ihn, jeder liebt ihn, und jeder hat schon ein Fünf-Francs-Stück hergegeben, um seine kratzige Stimme aus der Musik-Box zu hören. Denn dort gehört er hin, in die billigen Cafes der Vorstädte, wo sein bleierner Refrain erklingt: „Fatigue, fatigue, fatigue“ - „müde, müde, müde“. Mitterrand hatte schlechte Berater. Sie haben Renaud aufs Wort geglaubt. Sie haben gedacht, das Volk sei müde, es bedürfte keiner Einladung. Statt dessen sollen nun dreißig ausländische Staatschefs die Revolution feiern. Doch auf der Bastille machten die Königsdiener ihre Rechnung ohne den Wirt. Die Bastille gehört keinem König. „Fatigue, fatigue, fatigue“, sang Renaud im Volkscafe auf der Bastille. Niemand war müde. Die Pariser tanzten, und diesmal mußte auch niemand fünf Francs bezahlen.

„Er ist Sozialist und hat seine Ideen nicht verraten“, meint David. „Ihm verdanken wir das Fest“, sagt Carole. „Er hat eine große Klappe und ist dem Volk näher als Jacques Brel“, findet Hugues. „Ich mag ihn einfach“, gesteht Johanne. Und Jean-Pierre urteilt: „Er ist ehrlich. Er sieht nicht alles rosarot.“ Endlich steht Renaud auf der Bühne. Es ist zehn Uhr abends. Eine unüberschaubare Menschenmenge bedeckt den großen Platz. „Schön ist es, die Revolution zu feiern, besser ist es, sie zu machen“, raunt der Schlagerstar ins Mikrophon. Dann braust der Applaus auf. Ist das noch Wirklichkeit?

Renaud gleicht keinem Danton und keinem Robespierre. Eher schon dem „Petit Gavroche“, dem kleinen, zarten, aber revoltierenden Gassenjungen aus dem Roman Victor Hugos. Er ähnelt einem aufmüpfigen Abiturienten aus den siebziger Jahren. Seine Haare sind lang, der Schnitt nicht modern. Er trägt ein Solidaritäts-T-Shirt für die kanakische Befreiungsbewegung und spielt die altmodische Akkustikgitarre. Weil alle toten und alle lebenden Helden verblaßt sind, und die Revolution schon vergessen schien, suchte das Volk einen Anti-Helden und fand ihn. „Er singt die Sprache von heute, und seinen Slang versteht man nur in den Vorstädten. Seine Texte sind anarchistisch. Er schlägt eine Brücke zwischen der bürgerlichen Elite und dem Volk.“ Hugues ist begeistert. Er war schon '68 mit Cohn-Bendit auf der Bastille. Doch in den letzten Jahren ging nur sein Sohn demonstrieren. Heute sind Vater und Sohn erstmals gemeinsam unterwegs.

Für den Tag hatte Renaud im Voraus gedichtet. „Miss Maggie“ heißt sein Super-Hit, ein Loblied auf den Pazifismus der Frauen, von denen er nur eine ausschließt: „Madame Thatcher“. Gerade diese Dame aber zählt zu den sechs bevorzugten Staatsgästen Mitterrands, die am Freitag, wenn die Revolution ihre 200 Jahre gesegnet hat, den Weltwirtschaftgipfel der sieben reichsten Länder der Erde in Paris eröffnen werden. „Der Gipfel beleidigt unser Gedächtnis“, sagte Renaud vor dem Konzert am Samstag. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Gilles Perrault rief er das „Volk von Paris“ auf, gegen „den Gipfel der Reichen, die Schulden der dritten Welt, den Hunger, die Apartheid und die letzten Kolonien“ zu demonstrieren: „Kriegsherren und Volksmörder, die ihr euch in Paris versammeln werdet, ich heiße euch nicht willkommen. Mir graut vor Staatsfesten, wenn sie als Vorwand für Militärparaden dienen. Dieser 14.Juli 1989 hat etwas Symbolisches, das eure Gegenwart beschmutzen wird. Wenn ihr euch das Erbe der Sansculotten von gestern aneignet, dann werden wir die Sansculotten von heute feiern: die ohne Brot, ohne Arbeit, ohne Freude und ohne Licht sind.“ Zahlreiche solche Aufrufe wurden in den letzten Jahren verfaßt, aber nur wenige folgten ihnen. Erst am Samstag war alles anders.

„Dies ist die einzige nicht-staatliche Veranstaltung zum Revolutionsfest. Nicht der Staat, das Volk muß die Revolution feiern“, kommentiert der immer noch überzeugte Mitterrand-Wähler David. Carole, Krankenschwester von Beruf, meint: „Dieser Tag und unsere Forderungen sind der Revolution würdig. Was Mitterrand macht, ist Spektakel.“ Hugues setzt hinzu: „Sie wollten uns die Feier stehlen und haben es nicht geschafft.“ Währenddessen die 19jährige Literaturstudentin Johanne erkennt: „Die Revolution war zu Beginn doch wohl keine Idee der Reichen.“ Die Reichen, die Johanne meint, kommen am Donnerstag auf die Bastille, um Mitterrands Lieblingsprojekt, die große Volksoper, einzuweihen. Schon am Samstag hängt, blau-weiß-rot, der Festschmuck über dem Opernportal. Bis schließlich drei große Transparente die Opernansicht verdecken. Dreimal die Marianne, Frankreichs mythische Revolutionsführerin, wie sie sich Augen, Ohren und Mund zuhält.

„Renaud hat den Mund noch nie gehalten“, Schriftsteller Gilles Perrault ist voller Lob für seinen jungen Gefährten. Er selbst ist einer der wenigen ehemaligen „Wegbegleiter“ der Kommunisten, der seine Weste nicht umgekrempelt hat. Perrault ist es auch, der die einzige politische Rede des Abends hält: „Der dritte Stand der Gegenwart, der heute nach der Revolution verlangt, das ist die Dritte Welt. Am anderen Ende von Paris erzählen sie uns, daß das Gesetz des Marktes die Welt regiert. Doch wir hören ihnen nicht zu. Der größte Mörder dieses Jahrhunderts, tödlicher noch als die Bürokraten Stalins, das sind die Schulden der Dritten Welt. Mit dem Schwamm der Barmherzigkeit werden wir sie nicht tilgen können.“ Mit hochrotem Kopf tritt Perrault von der Bühne ab. „Ach, war das schön, auf der Bastille zu sprechen“, sagt der Ex-Kommunist und ewige Revolutionär.

Am Vortag hatte Gilles Perrault erklärt, worum es ihm hier ging. Er sprach vom „historischen Widersinn und diesem enormen Geschmacksfehler Mitterrands“. Der Revolution, die einst die Privilegien abschaffte, könne man nicht gedenken, indem man die Staaten hätschele, die heute privilegiert seien. Die zweite Beleidigung, die dem großen historischen Erbe wiederfährt, seien die „hollywoodähnlichen Shows“, mit denen das zweihundertjährige Jubiläum gefeiert wird. „Das Volk wird zum Statisten degradiert“, schimpfte Perrault.

Am Samstag boykottierten die Pariser ihre Statistenrollen. Die Sozialisten wollten es nicht wahrhaben. Renaud sei zwar ein ehrenhafter Mensch, bemerkte der ehemalige Premierminister und Mitterrand-Intimus Laurent Fabius, aber das Revolutionsjubiläum sei auch ein „Fest der Brüderlichkeit mit den reichen Ländern“. Zuvor hatten Mitterrand und die sozialistische Partei alles getan, um das Fest der Brüderlichkeit mit den armen Ländern zu verhindern. Mitterrand-Berater Jacques Attali verabredete sich mit Renaud zum Mittagessen, doch der Sänger ließ sich nicht belehren. Daraufhin starteten die Sozialisten eine eigene Kampagne für den Schuldenabbau in der Dritten Welt, sie aber verlief im Sande. Erstmals seit Mitterrand das Land regiert, mußten die Sozialisten am Samstag fortbleiben, als die um Renaud und Perrault vereinte Linke zum Revolutions -Rendezvous lud. Das alles sei nur ein „Mißverständnis“, beteurten die Sozialisten schließlich. Daß die Dinge so einfach nicht liegen, ließ sich allerdings bereits am Sonntag in der Tageszeitung 'Le Monde‘ nachlesen: „Dieses 200jährige Jubiläum gehört nicht den Barfüßigen. Es ist die Gedächtnisfeier für die bürgerliche Revolution von 1789, deren Ziel es war, eine konstitutionelle Monarchie zu errichten. Zweihundert Jahre später ist Frankreich ein bürgerliches Land, das von einem konstitutionellen Monarchen regiert wird.“

So revolutionskritisch ging es auf der Bastille freilich nicht immer daher. „Die Revolution war doch für alle da. Deswegen bin ich hier“, bemerkt der schwarze Antillaner Robert. Drei Postbeamte stehen in der Runde und diskutieren: „Die offiziellen Feiern weichen ein wenig vom Ursprung der Revolution ab“, erklärt der 33jährige Herve im gemäßigten Ton. Sein Kollege Frederique aber ereifert sich: „Bei der Militärparade auf den Champs-Elysees bekommen wir doch nichts zu sehen. Am 14.Juli fahr ich zu meinen Eltern in die Provinz.“ Pierre, den dritten in der Runde, plagen ganz andere Sorgen: „Am 14.Juli und in den Tagen danach werden alle Straßen im Zentrum blockiert sein. Schon beim Gorbatschow-Besuch war es unmöglich, die Briefkästen zu leeren.“ Pierre, Frederique und Herve sind sich einig, daß es genug Gründe gibt, die Revolution schon an diesem Samstag zu feiern.

Um zwei Uhr morgens ist die Luft noch warm. Das Gewitter war am Nachmittag vorübergezogen, jetzt kühlt es nicht mehr ab. Im weichen Rhythmus südafrikanischer Melodien schwingt sich die Bastille durch die Nacht. „Freiheit, Gleicheit, Brüderlichkeit - die drei Worte, die uns die Mächtigen stahlen, um sie in die Mauern von Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen einzuhämmern - wir holen sie uns zurück, diesmal für immer. Damit Freiheit und Gleichheit zutage kommen, und schließlich auch die Brüderlichkeit, jene Hoffnung, die die Menschheit seit ihrer Geburt im Herzen trägt.“ Perrault sprach so, wie es der Gelegenheit geziemte. „Der Schriftsteller, welcher eine soziale Revolution befördern will, darf immerhin seiner Zeit um ein Jahrhundert vorauseilen“, notierte Heinrich Heine. Revolution hin, Revolution her - die Pariser haben sie erneut vor dem Vergessen gerettet.

Georg Blume